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Neue Ideen für die Schule

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Illustration: Derek Roczen

Neue Ideen für die Schule

Kolumne | 17. Mai 2023

Unsere Kolumnistin Marah Rikli hat sich Gedanken über «Neue Ideen für die Schule» gemacht. Entstanden ist ein Text über Inklusion, der zum Nachdenken anregt.

Ronja * besucht seit zwei Jahren eine heilpädagogische Schule. Kürzlich war wieder Schulbesuchsmorgen für die Angehörigen und jedes Mal bin ich vom Konzept der Schule beeindruckt. Die Betreuung der Kinder durch die Bezugspersonen ist intensiv und individuell. Während die einen Kinder bereits das Schreiben und Rechnen üben, lernen andere erst noch das Kleben oder Schneiden. Musische Fächer, gemeinsam spielen oder kochen sowie Projektwochen mit Musical oder Zirkus erhalten viel Platz im Stundenplan. Der Fokus an dieser Schule liegt nicht auf der Benotung, sondern auf der Lernmotivation, dem Zusammenhalt und den Ressourcen der Kinder. Der Umgang ist bestärkend und liebevoll.

Ronjas Beschulung nennt sich in der Behördensprache «Separation» und ist eine Ausnahmelösung: Das Volksschulgesetz sieht die Regelschule vor. Der Inklusion von Kindern wie Ronja weht in der Schweiz noch immer ein rauer Wind entgegen. Trotzdem – oder gerade deshalb – haben Ronjas Vater und ich uns vorerst für diese Sonderschule entschieden.

Marah Rikli

Es ist schwer in Worte zu fassen, welche Gefühle die Parolen gewisser Politiker und Politikerinnen («Für eine leistungsstarke Schule» oder «Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten zurück in die Kleinklasse») in mir auslösen. Ähnlich die Begegnung vor einigen Monaten mit einem Bekannten: Der Lehrer schilderte mir, wie ein Junge mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) die Klasse irritiere. Dann imitierte er das Kind: Er schlug sich mit der Hand stereotyp an den Kopf, verzog das Gesicht und zuckte dramatisch. Er sei froh, wenn dieser Junge endlich die Schule verlasse. Zu schockiert und traurig darüber, wie abwertend dieser Mann über ein Kind mit Behinderung sprach, fehlten mir die Widerworte. Stattdessen kamen mir die Tränen.

Zweifelsohne ist die Umsetzung von Inklusion herausfordernd, besonders für Lehrpersonen, die allein für eine Klasse verantwortlich sind. Hinzu kommt der Druck seitens der Eltern nicht behinderter Kinder. Ausserdem fehlt es an finanziellen und personellen Ressourcen sowie heilpädagogischem und nicht selten auch therapeutischem Fachwissen. Doch die Abwertung von Kindern mit Behinderung oder gar deren Ausschluss aus regulären Klassen ist keine Lösung. Im Gegenteil: Daraus ergeben sich für die betroffenen Kinder und ihre Familien weitere Hürden auf dem Bildungsweg. Die Separation führt meist in den geschützten Arbeitsmarkt und nicht in eine Lehre oder ein Studium – Chancengleichheit sieht anders aus.

Zur Autorin

Marah Rikli ist Journalistin, Moderatorin und Buchhändlerin. Sie hat einen Sohn (18 Jahre) sowie eine Tochter (8 Jahre), die mit einer Entwicklungsstörung auf die Welt kam. Hier schreibt sie über ihr Leben mit einem Kind mit Behinderung.

Wie wäre es, wenn wir nach neuen Wegen zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention (BRK) der UNO suchen? Nach Lösungen, die für alle Kinder förderlich sind? Studien ergaben nämlich schon vor einigen Jahren, dass der Unterricht in einer kleinen Klasse zu besseren Leistungen der Kinder führt und die Wahrscheinlichkeit einer Klassenwiederholung senkt. Ebenso zeigen Untersuchungen, dass eine reizarme Gestaltung des Klassenzimmers sich auf alle Kinder positiv auswirkt, nicht nur auf jene mit einer Lernstörung.

Warum also die Regelschule nicht den individuellen Bedürfnissen sämtlicher Kinder anpassen? Genau das wäre Inklusion: Das System passt sich dem Menschen an und nicht umgekehrt.

Ich bin für eine Umkehrung der aktuellen Debatte: Von nun an gelten nicht mehr die bisherigen Regelklassen als Massstab, sondern die heilpädagogischen Schulen – wie jene von Ronja. Und die Kinder dürfen einfach Kinder sein, ohne in die Schubladen «behindert» oder «nicht behindert» eingeteilt zu werden.

* Ronja heisst mit richtigem Namen anders.