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Voll digitaler Unterricht

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Voll digitaler Unterricht

Pro & Kontra | 22. Februar 2024

Welche Vorteile bietet ein voll digitaler Unterricht? Ist dieser in der Realität des Klassenzimmers überhaupt umsetzbar? Diese Fragen stellen sich auch die beiden Oberstufenlehrerinnen Géraldine Eliasson und Olivia Greuter – ihre Antworten fallen unterschiedlich aus.

34 35 Pro Kontra Portrait Geraldine Eliasson
Géraldine Eliasson

PRO

Géraldine Eliasson unterrichtet seit 22 Jahren auf der Sekundarstufe I, aktuell eine Realklasse an der Schule Neuenhof im Kanton Aargau. Mit ihren Klassen ist sie mit Vorliebe und aus Überzeugung voll digital unterwegs. Ihre Lieblingsfächer sind Mathematik und RZG (Räume, Zeiten, Gesellschaften).

Ausschlaggebend war für mich eine Beobachtung vor über zwanzig Jahren, als zum Schuljahresende mehrere Schülerinnen und Schüler triumphierend ihr gesamtes Unterrichtsmaterial auf dem Schulhof verbrannten. Ich war damals noch zu jung und als Lehrperson überfordert, um entsprechend zu reagieren. Dieser Moment hat mich lange beschäftigt und war sicherlich ein Grund für mein digitales Umdenken.

Eines der wichtigsten Hauptkriterien des digitalen Unterrichts ist für mich die Nachhaltigkeit des Wissens. Die Digitalität erlaubt es den Lernenden, ihr erworbenes Wissen nicht nur zu sichern, sondern es auch in weiterführenden Schulen erneut abzurufen und einzusetzen. Es ist mir ein grosses Anliegen, dass meine Schülerinnen und Schüler ihre Arbeiten, Projekte, Notizen, Versuche, Fotos, Videos, Links usw. sichern. Ich lege Wert auf ein übersichtliches System ihrer Datenablage. Wir ordnen nach Fächern und diese werden wiederum nach Themen sortiert. Innerhalb von Sekunden können sie für jedes beliebige Thema die dazugehörigen Unterlagen abrufen und ergänzen.

Eines der wichtigsten Kriterien ist die Nachhaltigkeit des Wissens.
Géraldine Eliasson

Hier sehe ich zudem einen weiteren Vorteil: Seit knapp zehn Jahren höre ich die Aussage «Ich habe meine Unterlagen zuhause vergessen» von meinen Schülerinnen und Schülern nicht mehr. Die Unterlagen sind immer verfügbar, auch am Wochenende oder während den Ferien. Lernende, die selbstständig weiterarbeiten möchten, haben jederzeit Zugang, unabhängig von geografischen oder zeitlichen Einschränkungen. Durch die Nutzung von adaptiven Plattformen können Inhalte auf den individuellen Fortschritt und die konkreten Bedürfnisse der Lernenden zugeschnitten werden. Dies ermöglicht eine effizientere Nutzung der Zeit und fördert das selbstgesteuerte Lernen.

Ein weiterer Punkt: Die Eltern haben jederzeit Einblick in den Lernstand ihrer Kinder. Diese Transparenz schafft ein positives Klima zwischen dem Elternhaus und mir. Zeugnisse bespreche ich bereits seit Jahren nicht mehr, da alle Parteien jederzeit Einsicht in den Lernstand haben.

Ein riesiger Vorteil ist zudem die Reduktion der Papierberge. Weder kopiere ich haufenweise Unterlagen, noch stapeln sich lose Arbeitsblätter auf den Pulten der Schülerinnen und Schüler. Damit tragen wir zur Schonung der Umwelt bei: Durch den Einsatz von digitalen Lehrmitteln und virtuellen Materialien können Ressourcen eingespart und Abfälle verringert werden.

Digitale Lernmedien bieten ausserdem die Möglichkeit, Inhalte schnell und einfach zu aktualisieren. In einer sich rasch verändernden Welt ist dies von grosser Bedeutung, um sicherzustellen, dass die Bildungsinhalte immer auf dem neuesten Stand sind.

Nicht zuletzt bietet der digitale Unterricht Möglichkeiten zur Zusammenarbeit und Vernetzung zwischen den Lernenden. Gemeinsame Projekte und virtuelle Klassenräume fördern den Austausch von Ideen und die Zusammenarbeit über geografische Grenzen hinweg.

Digitale Lehrmittel ermöglichen eine vielfältige und reichhaltige Lernerfahrung. Komplexe Themen oder Aufgaben werden leichter verständlich gemacht, indem sie auf ganz vielfältige Weise dargestellt werden können.

34 35 Pro Kontra Portrait Olivia Greuter
Olivia Greuter

KONTRA

Olivia Greuter ist an der Oberstufe Gsteighof in Burgdorf als Fachlehrerin für Französisch und Integrative Förderung auf der Sekundarstufe I tätig. Sie unterrichtet von der Realschule bis zur «Spez-Sek», dem höchsten Niveau der Sekundarstufe einiger Berner Schulen.

Sowohl Lehrpersonen als auch Schülerinnen und Schüler haben unterschiedliche Vorlieben des Lehrens und Lernens: Digitale Lehrmittel bedeuten nicht für alle den effektivsten Weg zum Lernerfolg. Ja, es ist wichtig, dassh sich die Jugendlichen in der digitalen Welt zurechtfinden. Sie müssen merken, wie digitale Hilfsmittel ihren Lernprozess unterstützen können – oder auch nicht. Aber erst wenn das analoge Lernen funktioniert, können digitale Hilfsmittel unterstützend wirken: Während meines Unterrichtens habe ich oft gesehen, wie das analoge Üben dem digitalen Lernprozess vorangeht. Fällt einer Schülerin das Lernen schwer, fällt es ihr mit digitalen Hilfsmitteln noch schwerer.

Lernen ist ein Prozess: Für meine Schülerinnen und Schüler ist das analoge Schreiben, Sprechen, Hören und Lesen dabei ganz wesentlich und unverzichtbar. Solange digitale Lehrmittel das analoge Handeln aktivieren, wirken sie sicherlich unterstützend. Oft mache ich aber die Erfahrung, dass die Lernenden in diesem Fall lieber auf das Digitale verzichten und direkt zu Stift und Papier greifen.

Persönlich neige ich dazu, wieder vermehrt zu analogen Lehrmethoden zu greifen. Disziplinarisch herausfordernde Klassen lasse ich unter anderem wie früher Hefteinträge erstellen und von der Wandtafel abschreiben. Dabei erlebe ich, dass Ruhe und Entschleunigung einkehren. Die Lernenden wissen genau, was sie machen müssen, der Auftrag ist simpel: Es funktioniert einfach. Inzwischen führe ich mit jeder Französischklasse ein Heft mit Einträgen und Übungen. Manche gestalten es sehr sorgfältig. Es gibt ihnen einen strukturierten Überblick über die gelernten Inhalte.

Das Heft, das zusammengeklappt wird, das Kratzen des Bleistifts, der jeden Buchstaben einzeln schreibt, der Geruch des Papiers: Handschriftliches Schreiben ist nicht digital ersetzbar. Das analoge Lernen empfinde ich, vor allem im Fremdsprachenunterricht bei Realschülerinnen und -schülern, als einfach und effektiv. Ich erlebe sie konzentrierter und weniger abgelenkt, wenn das iPad geschlossen vor ihnen liegt. Regelmässig bin ich erstaunt, wie gut ihnen ins Heft geschriebene Unterrichtsinhalte in Erinnerung bleiben. In solchen Momenten empfinde ich die digitale Methode sogar als störendes Medium dazwischen.

Die Ablenkung ist einer der Hauptgründe, warum ich mich dagegen entscheide.
Olivia Greuter

Die schier unendlichen Möglichkeiten, die einem von digitalen Lehrmitteln geboten werden, erachte ich als anspruchsvoll. Die Lernenden verlieren sich rasch in den Inhalten. Die Ablenkung ist für mich einer der Hauptgründe, warum ich mich gegen ein voll digitales Lehrmittel entscheide.

In einem rein digitalen Unterricht geht auch ein Grossteil der natürlichen Interaktion verloren. Das gemeinsame Erarbeiten eines Sachverhalts ohne digitale Hilfsmittel birgt wertvolle und facettenreiche Lernschritte. Ich denke an zwischenmenschliche und kommunikative Fähigkeiten wie das Zuhören. Es geht um die Handlung, Geste oder Sprache, die beim Gegenüber unmittelbar ankommt; dieser direkte Austausch fehlt mir oft bei digitalen Medien und ist nicht mit dem Austausch in einem Chatroom vergleichbar.

Ich versuche mir vorzustellen, wie der Unterricht voll digitalisiert aussehen würde, und bin überzeugt, dass er unserer Gesellschaft mehr Verlust als Gewinn bringen würde.


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