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Lehrplan 21

Pro kontra wuerfel

Lehrplan 21

Pro & Kontra | 17. Mai 2023

Eine Frage, die spaltet: Ist der Lehrplan 21 zu überladen? Für die einen ist er ein sinnvolles Rahmengerüst, das in der Praxis flexibel angepasst werden kann, für die anderen ist er zu kompliziert und vollgepackt mit abstrakten Forderungen. Astrid Fink und Carl Bossard beziehen Stellung.

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PRO

Astrid Fink ist Schulleiterin der Sek Hausen, einer Kreisschulgemeinde bestehend aus den Gemeinden Hausen am Albis, Kappel am Albis und Rifferswil. Pro Jahrgang werden drei bis vier abteilungsgemischte Klassen (Niveau A, B und C) und je 15 bis 21 Schülerinnen und Schüler geführt.

Der Druck, es ins Gymnasium zu schaffen – ob er nun vonseiten der Eltern oder aus der Primarstufe kommt –, besteht für die Schülerinnen und Schüler wie für die Sekundarschulen seit vielen Jahren. Dies merken wir auch in der Sek Hausen. In der Primarstufe werden die Kinder für den Übertritt in die Oberstufe in die Abteilungen A, B und C eingeteilt. Der «Gymidruck» führt dazu, dass wir immer sehr viele A-Schülerinnen und A-Schüler haben und vergleichsweise wenige Kinder in den anderen beiden Niveaus. Die Schulplanung gestaltet sich dadurch sehr schwierig, da die Klassengrössen stark variieren. Dafür brauchten wir eine Lösung und das «Kooperative Lernen» wurde für uns zu einem wegweisenden Grundstein unseres Schulverständnisses.

Man muss den Mut haben, den Handlungsspielraum im Lehrplan 21 zu nutzen.
Astrid Fink, Schulleiterin Sek Hausen

Im Jahr 2008 entschieden wir uns für den abteilungsgemischten Unterricht. Seither lautet unser Motto: «Gemeinsam sind wir stark!»

In der Zwischenzeit haben wir unser Konzept laufend weiterentwickelt. Wenn ich eine neue Lehrperson suche, stelle ich ihr unser Konzept genau vor, denn zwischen uns muss es passen. Wer bei uns arbeitet, muss wissen, wie unsere Schule funktioniert, und soll ebenfalls auf diese Art unterrichten wollen. Das ist anspruchsvoll, daraus mache ich kein Geheimnis! Es ist eine Herausforderung, den Unterricht der verschiedenen Niveaustufen zu individualisieren. Wir finden den Lehrplan 21 jedoch nicht überladen, denn er deckt die für uns zentralen Kompetenzen ab. Vollgeladen sind die stillen Lehrpläne hinter dem Lehrplan 21, also was die weiterführenden Schulen verlangen und vorgeben. Natürlich wäre es einfacher, Punkt für Punkt aus strikten Vorgaben abzuarbeiten, als sich mit der Stärkung von Kompetenzen auseinanderzusetzen. Hier braucht es den sogenannten Mut zur Lücke: Weil uns diese Kompetenzen wichtig sind, müssen wir schauen, wo wir dafür einen Platz finden können – schliesslich gibt es kein eigenes Fach dafür.

Weil für uns die Teamarbeit innerhalb der Klasse so wertvoll ist, haben wir die Klassenstunden eingeführt. Diese sind nicht explizit in der Unterrichtstafel aufgeführt und man muss sie von anderen Fächern wie Deutsch oder RZG (Räume, Zeiten, Gesellschaften) «abzwacken». Tatsächlich lässt sich dies aber ideal mit dem Lehrplan 21 vereinbaren, denn im Fach Deutsch wird unter anderem auch verlangt, dass man mit anderen Menschen zusammenarbeiten kann. Man muss den Mut haben, diesen Handlungsspielraum innerhalb des Lehrplans 21 zu nutzen.

Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, Kompetenzen zu messen. Noten können, beispielsweise von den Eltern, besser eingeordnet werden, man kann daraus ableiten, dass das Kind den Stoff beherrscht. Doch wie misst man Kompetenzen? Ich kann sie sichtbar machen, indem ich regelmässig Infoabende veranstalte, bei denen auch Ehemalige zu Wort kommen und erzählen, welchen beruflichen oder schulisch weiterführenden Weg sie nach der Sekundarschule eingeschlagen haben. Wir können Jugendliche aus der Sekundarstufe entlassen, die auf ihren eigenen Beinen stehen. Für die, die es anstreben, müssen wir den Übergang ins Gymnasium gewährleisten. Dazu gehört aber, dass die Jugendlichen wissen, was sie anschliessend machen möchten, und selbst erkennen, was es dazu – auch von ihrer Seite her – noch braucht.

Eine gute Selbstorganisation oder das selbstständige Nachfragen, wenn man etwas nicht versteht, das erwarten wir von unseren Lernenden. Auch in der Berufspraxis werden diese Kompetenzen immer mehr gefordert. Wir unterstützen unsere Jugendlichen darin, sich persönlich weiterzuentwickeln und sich in der modernen Gesellschaft zurechtzufinden.

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KONTRA

Carl Bossard hat Erziehungswissenschaften und Geschichte studiert und am Lehrerseminar St. Michael Zug unterrichtet. Er ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug.

Wann gilt ein Fuder als überladen? Sind 363 Kompetenzen mit über 2300 fein gerasterten Kompetenzstufen, aufgelistet auf 470 Seiten, des Guten zu viel? Die Frage führt auf ein kontroverses Feld. Beantworten kann sie nur die Praxis. Wenn Bildungsidee und Unterrichtsalltag nicht übereinstimmen, leidet die Wirklichkeit. Und mit ihr die Schülerinnen und Schüler – und die Lehrpersonen. Eine plausible Antwort kommt darum aus dem Klassenzimmer. Für einen Junglehrer sieht die Realität so aus: «Dieses System engt mich ein», klagt er. Er unterrichte gerne, aber er hetze von Inhalt zu Inhalt, von Thema zu Thema, fügt er ernüchtert bei und schreibt: «Vom Grossen und vom Ganzen bin ich weit entfernt: ein unzusammenhängendes Sammelsurium, ohne innere Kohärenz, ohne Zeit zum Vertiefen und Üben, ohne Chance zum Erlebnis und Musischen.»

Mit seiner Überfülle korrumpiert der Lehrplan 21 die ursprüngliche Kompetenzidee.
Carl Bossard, Gründungsrektor PH Zug

Und noch etwas mache ihm zu schaffen: «Dauernd muss ich beurteilen und die Kinder in Kompetenzraster zwängen. Die vielen Vorgaben schnüren mich ein. Meine pädagogische Arbeit besteht doch nicht im emsigen Katalogisieren von Einzelkompetenzen.»
Sein Fazit: «Die jungen Menschen in messbare Einzeltüchtigkeiten zerlegen, in diese isolierten Skills, das will ich nicht. Das ist zerstückelte Bildungsarbeit. Und sie auf den engen Kompetenzbegriff zurückzustufen, dazu bin ich nicht Lehrer geworden.»

Eine Einzelstimme zwar, aber kein Einzelfall. Wer sich durch den dichten Lehrplan 21 quält, erkennt schnell, was radikal anders geworden ist: Das System wechselt von der Input- auf die Output-Steuerung. Den Schulen wird nicht mehr vorgegeben, was inhaltlich zu unterrichten ist. Detailliert wird dekretiert und genau geregelt, was die Schülerinnen und Schüler am Ende können müssen. Definiert wird der Output der Lernenden und teilweise auch verordnet, wie er zu erreichen sei, also der méthodos, der Weg. Der Lehrplan 21 legt darum kleinparzellierte Einzelkompetenzen fest. Das Fach Musik beispielsweise verlangt von einem Kind: «Kann seinen Körper sensomotorisch wahrnehmen und musikbezogen reagieren.»

Von Erstklässlerinnen und Erstklässlern fordert der Bereich Bildnerisches Gestalten: «[Die Kinder] können in der visuellen, taktilen, auditiven und kinästhetischen Wahrnehmung Unterschiede erkennen und sich darüber austauschen.» Ein solches Korsett wird für manche zum Problem. Mit seiner Überfülle korrumpiert der Lehrplan 21 die ursprüngliche Kompetenzidee. Als Vater des heutigen Kompetenzbegriffes gilt der Psychologe Franz E. Weinert. Er wollte die Schule wegbringen von einer oft einseitigen Dominanz des Wissens. Fähigkeiten fördern und Können schulen, das war seine Devise: Junge Menschen müssen Probleme lösen können. Dazu benötigen sie Wissen, Willen und Motivation.

Doch die Dichte des Lehrplans 21 und die vielen Vorgaben führen dazu, dass der Wissens- und Könnensaufbau zufällig bleibt und das Systematische mit dem Verstehen und Vertiefen, dem Abrufen und Anwenden des Gelernten viel zu kurz kommt. Denkprozesse benötigen klare Wissensstrukturen. Jugendliche brauchen darum kognitive Ordnungsstrukturen, Können verlangt Üben.

«Wenn man die Schule in unzählige Einzelkompetenzen zerlegt, zerfällt die Gestalt des Unterrichts irgendwann zu Staub», gab der Fachdidaktiker Ralph Fehlmann, Universität Zürich, zu bedenken. Genau so empfindet der Junglehrer. Er fühlt sich in der Flut der Kompetenzen verlorenEin Ding richtig können ist eben mehr als Halbheiten im Hundertfachen, heisst es bei Goethe sinngemäss – oder konkret: besser als Halbheiten in Hunderten von Kompetenzen. Es ist der Preis der Fülle.


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