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Was wird nur aus ­meinem Kind?

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Was wird nur aus ­meinem Kind?

Kolumne | 15. Januar 2019

Nicole Althaus ist Kolumnistin, Autorin und Chefredaktorin Magazine der NZZ. Sie hat zuvor den Mamablog für Tages­anzeiger.ch lanciert und das Familienmagazin «wir eltern» geleitet und neu positioniert. Nicole Althaus hat zwei ­Töchter im Teenageralter und lebt in der Nähe von Zürich.

Manchmal muss ich schmunzeln, wenn ich höre, was die Menschen alles richten wollen mit blossem Willen. Geradeso als wäre der Wille allmächtig. Es fängt schon im Kindergarten an, wenn Eltern nach einem Jahr überzeugt sind, das Kind langweile sich ganz sicher beim Spielen, es müsse unbedingt in die Schule. Schliesslich kann es schon lesen, was es selbstverständlich alleine gelernt hat, ganz ohne Zwang. Andere Eltern wissen genau, welche Lehrperson den Nachwuchs zum Blühen bringt. Selbst wenn sie diese bloss vom Hörensagen kennen. Es kommt einem zuweilen vor, als ob Eltern ihren Nachwuchs mit den Holzklötzchen verwechseln, die sie ihm einst zur Frühförderung in die Hände drückten, damit er das runde Klötzchen in das runde Loch versenke und das dreieckige in das dreieckige.

Spätestens beim Übertritt in die Oberstufe wird an den menschlichen Klötzchen ernsthaft geschliffen und poliert, damit das dreieckige vielleicht doch in das runde Loch passt. Oder das runde ein paar Kanten bekommt und ins Quadrat gedrückt werden kann. «Meine Tochter gehört ins Gymi», hört man sagen. Oder: «Mein Sohn ist viel zu bewegungsfreudig, um viel zu lernen.» Selbst die unbekümmertsten Seelen unter den Eltern können sich der Selektionshysterie kaum entziehen. Denn der Übertritt ist heute kein Schulwechsel mehr, er ist zumindest in den grossen Schweizer Städten Lifestyle oder mehr noch: Religion. Für die einen ist das Langzeitgymnasium der einzige Heilsweg, die anderen glauben an die Dreifaltigkeit von Sek, Lehre, Berufsmatura. Und für viele Eltern kommt für den Nachwuchs nur die schulische Laufbahn infrage, die sie selbst einst eingeschlagen haben.

Dass sich die Zeiten und mit ihnen auch die Schulen geändert haben, wird oft unterschlagen. Es ist geradezu paradox: Noch nie fürchteten Eltern mehr, die schulischen Weichen ihrer Kinder könnten falsch gestellt werden. Und das, obwohl gleichzeitig die Möglichkeiten, ein Berufsziel zu erreichen, noch nie so vielfältig waren: Kurzgymnasium, Berufsmatur, Passerelle, Fachhochschulen, Weiterbildungs- und Umschulungsangebote. Warum, muss man sich fragen, machen sich Eltern solchen Stress?

Wahrscheinlich, weil Erfahrung noch immer der beste Lehrer ist. Auch im Erwachsenenalter. Erst wenn der älteste Sohn im vierten Gymnasium plötzlich wieder mit den Kameraden die Schulbank drückt, die erst nach ein paar Jahren Sekundarschule in die Kantonsschule wechselten, ist Durchlässigkeit mehr als ein theoretisches Konstrukt. Erst wenn das Gottenkind nach drei Jahren Kantonsschule austritt, eine Berufslehre in einem Architekturbüro anfängt und aufblüht, ist die Matura nicht mehr ungefragt der Heilige Gral. Dann betrachtet man als Eltern die ganze Übertrittsfrage plötzlich aus einer anderen Perspektive: Die Schule macht nicht etwas aus dem Kind. Das Kind macht etwas aus der Schule. Wenn man es lässt.


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