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Integrative Schule und Arbeitsmarktchancen

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Integrative Schule und Arbeitsmarktchancen

Aus der Forschung | 15. Mai 2019

Laut dem Bildungsbericht 2018 bietet der integrative ­Unterricht grosse Vorteile: Kinder mit Förderbedürfnissen ­profitieren, und ihre Mitschülerinnen und Mitschüler ­entwickeln sich wie in Klassen ohne integrierte Förderung. Doch wie wirkt sich die schulische Integration auf die ­berufliche Laufbahn aus?

Meist wird die Diskussion um integrative und separative Schulmodelle unter kurzfristiger Perspektive geführt, und die Hauptfragen betreffen die aktuelle schulische Entwicklung: In welchem Modell zeigen Jugendliche mit Lern- und Verhaltensproblemen die besseren Leistungen? Welche Auswirkungen hat die Integration auf Schülerinnen und Schüler ohne Lern- und Verhaltensprobleme? Dabei geht oft vergessen, dass der langfristigen Perspektive eigentlich mehr Bedeutung zukommen sollte: Wie wirkt sich die schulische Integration auf den Berufseinstieg und das spätere berufliche und private Leben aus?

Die Forschungslage dazu ist bisher noch lückenhaft, aber einige Anhaltspunkte gibt es dennoch: In einer Längsschnittstudie der PH Bern wurden die Bildungsverläufe von 450 Personen von der Grundschule bis ins junge Erwachsenenalter analysiert. Die Ergebnisse sind eindrücklich und sprechen für integrative Schulmodelle: Integriert beschulte Kinder mit Lern- und Verhaltensproblemen haben signifikant höhere Chancen auf einen erfolgversprechenden Berufszugang als ehemalige Sonderklässler mit vergleichbaren Voraussetzungen. Eine andere Studie bestätigt das: Integriert beschulte Jugendliche können häufiger direkt in eine Berufsausbildung einsteigen und sind so weniger auf Brückenangebote und Zwischenlösungen angewiesen. Die erstgenannte Studie zeigt weiter, dass ein Viertel der jungen Erwachsenen mit Sonderklassenbiografie keinen Anschluss an eine berufliche Ausbildung findet. Ihre Berufswege sind insgesamt öfter geprägt durch Wechsel und Brüche als bei vergleichbaren jungen Erwachsenen aus Regelklassen.

Zur Autorin

Dr. phil. Claudia Hofmann ist Dozentin / Senior Researcher am Institut für Lernen unter erschwerten Bedingungen (ILEB) an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich sowie Fachpsycho­login für Berufs- und Laufbahnberatung FSP.

Kurzfristig nachteilige Auswirkungen

Auch wenn es noch nicht viele Langzeitstudien gibt, erfahren wir auf den zweiten Blick einiges mehr, weil die unmittelbaren Auswirkungen in der Schulzeit gut erforscht sind und wir aus anderen Studien wissen, was dies für die weitere Laufbahn bedeuten kann. Konkreter: Es ist zum Beispiel klar belegt, wie sich die Integration (im Vergleich zur Separation) auf die Entwicklung der schulischen Leistungen, auf die Persönlichkeit und die soziale Entwicklung auswirkt: Jugendliche, die integrativ beschult werden, erzielen bessere Leistungen, sie fühlen sich wohl in der Klasse und sind motiviert. Dies sind alles Faktoren, die nachgewiesenermassen auch die weitere berufliche Laufbahn positiv beeinflussen. Unter der kurzfristigen Perspektive kann die schulische Integration aber auch nachteilig sein. So haben Jugendliche mit Lern- und Verhaltensproblemen, die in integrativen Settings beschult werden, ein negativeres Selbstkonzept, als wenn sie separiert beschult würden. Kein Wunder, denn sie vergleichen ihre Leistungen ständig mit Kolleginnen und Kollegen in der Klasse, die weniger Schulprobleme haben und denen deshalb beruflich mehr Türen offen stehen. Im separativen Setting einer Kleinklasse befinden sich die Jugendlichen dagegen in einer Art Schonraum und haben ein entsprechend positiveres Bild ihrer Fähigkeiten.

Integriert beschulte Kinder mit Lern- und Verhaltensproblemen haben ­signifikant höhere Chancen auf einen erfolgversprechenden Berufszugang als ehemalige Sonderklässler mit vergleichbaren Voraussetzungen.
Claudia Hofmann, Fachpsychologin

Gute Begleitung zentral

Aus der Berufswahlforschung weiss man aber, dass längerfristig gesehen nicht in erster Linie eine positive, sondern eine realistische Selbsteinschätzung eine gute Basis für die Wahl eines Berufs ist. Passt der Beruf zu den eigenen Fähigkeiten und Interessen, ist es wahrscheinlicher, dass jemand die Ausbildung auch erfolgreich abschliesst und beruflich zufrieden ist. Die Auseinandersetzung mit den eigenen Grenzen mag also kurzfristig schmerzlich sein. Langfristig hat diese «Ent-Täuschung» aber positive Auswirkungen auf das Berufsleben.

Doch für Jugendliche mit Lern- und Verhaltensproblemen bedeutet der Einstieg ins Berufsleben in erster Linie eine kritische Phase in ihrem Leben – und zwar unabhängig davon, ob sie integriert oder separiert beschult wurden. Um dies gut zu überstehen und den Mut nicht zu verlieren, ist es gerade auch für integrativ beschulte Jugendliche wichtig, dass sie optimal begleitet werden. Lehrpersonen und Schulische Heilpädagoginnen und Heilpädagogen spielen hier eine Schlüsselrolle, auch wenn sich diese Begleitung oft nicht einfach gestaltet. So müssen die überhöhten Erwartungen von Jugendlichen und deren Eltern mit der harten Realität in Deckung gebracht werden. Das ist ein zäher Prozess und eine eher undankbare Rolle. Umso wichtiger ist es, dass für die Begleitung genügend Ressourcen zur Verfügung stehen. Und neben dem fachlichen Know-how über die Möglichkeiten und Grenzen unseres Berufsbildungssystems brauchen Begleitpersonen im Spannungsfeld zwischen Schule, Arbeitgeber und Familie vor allem dies: Fingerspitzengefühl und eine gute Portion Gelassenheit.


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