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«Glück ist ein Massanzug»

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«Glück ist ein Massanzug»

Schulfach Glück | 10. Januar 2022

Lucia Miggiano bietet Weiterbildungen zum «Schulfach Glück» an. Sie will den Menschen Werkzeuge mit auf den Weg geben, mit denen sie lernen, ihr eigenes Glück zu finden.

«Ich hätte gerne einen Capuccino, ein Glas Wasser und eine Portion Gelassenheit.» Die Restaurantfachfrau im Hotel Nomad in Basel lacht. «Bring ich gleich!» Die aussergewöhnliche Bestellung aufgegeben hat Lucia Miggiano, Lehrerin und Glückstrainerin. Aussergewöhnlich ist auch der Grund für ihre Bestellung: «Ich musste heute Morgen gleich zweimal den Krankenwagen rufen, weil zwei Schülerinnen eine Panikattacke erlitten. Ich meine, wie vielen Leuten passiert es schon, dass sie einmal in ihrem Leben den Krankenwagen rufen müssen?», fragt die 59-Jährige rhetorisch. «Und wie vielen zweimal am gleichen Tag?»

Eigentlich wollte ich von Lucia Miggiano wissen, ob sie gerade glücklich ist, aber ob diese Frage nach so einem Vormittag noch passt? Ich stelle sie trotzdem. «Was ich erlebt habe, hat mich beunruhigt, aber nicht unglücklich gemacht», lautet die Antwort. «Glück und Wohlbefinden hängen nicht von einzelnen Momenten ab. Zudem: Die Sonne scheint, ich kann über ein Thema reden, das mir wichtig ist, also ja, eigentlich bin ich glücklich.» Glück sei für sie, wenn sie mit Menschen zusammen ist, die ihr entsprechen, die ihre Werte teilen, mit denen sie sich wohlfühlt. «Beziehungen machen glücklich, die Familie, Freunde, Kolleginnen.» Glücklich mache sie auch ihr Job in Muttenz als Lehrerin am Zentrum für Brückenangebote, den sie als sinnvoll erlebt. Und natürlich ihre Arbeit als Glückstrainerin. Dass sie heute als Glückstrainerin und Lehrerin arbeitet, ist nicht selbstverständlich. Lucia Miggiano hatte die verschiedensten Berufe inne: Sie war Flight Attendant, Dolmetscherin, Bankerin, bis sie vor rund zehn Jahren alles hinschmiss, sich zur Lehrerin ausbilden liess und später zur Glückstrainerin.

Das Glas neben dem Wasserhahn

Heute ist das Ziel von Lucia Miggiano, Glück als Schulfach zu etablieren, weil glückliche Menschen besser lernen, produktiver und kreativer sind. Sie werden seltener krank und haben eine höhere Lebenserwartung. «Glücklich zu werden ist mit viel Arbeit verbunden», betont Lucia Miggiano. «Man muss reflektieren, sich vergegenwärtigen, was einen glücklich macht und wie sich das erreichen lässt; was brauche ich, wenn ich mich schlecht fühle?» Sie vergleicht das mit dem berühmten Glas, das für die einen halb voll, für die anderen halb leer ist: «Ob volles oder leeres Glas, ist irrelevant. Man muss merken, dass das Glas neben dem Wasserhahn steht und jederzeit wieder aufgefüllt werden kann, falls man das braucht.» Solche Sichtweisen versucht die Lehrerin am Zentrum für Brückenangebote auch ihren Lernenden zu vermitteln. Für sie auch ganz wichtig: Glück ist wie ein Massanzug. Was für sie perfekt passt, muss für andere überhaupt nicht stimmen. Und was ihr vor 20 Jahren passte, sitzt heute überhaupt nicht mehr. Sie kann deshalb auch keine pauschalen Tipps geben, was man machen solle, wenn man sich schlecht fühlt. «Das muss jeder für sich selbst herausfinden.» Obwohl, einen Tipp hat sie doch. «Wenn Sie sich ärgern, gehen Sie ins Bad, schliessen Sie die Türe ab, stellen Sie sich vor den Spiegel und ziehen Sie die Mundwinkel nach oben. Machen Sie diese Übung eine Minute lang. Sie werden merken, dass es Ihnen nachher besser geht.» Denn durch das Hochziehen der Mundwinkel werde dem Hirn signalisiert, dass da jemand lächle, also glücklich sei.

Wer fährt den Bus?

Ein weiteres Bild, das Lucia Miggiano gerne beschwört, ist das des Busfahrers. «Ich fahre meinen Bus selbst, entscheide, wohin ich will. Ich kann mich schon von anderen chauffieren lassen, mich mit Leuten umgeben, die sich um mich kümmern. Aber langfristig ist das keine gute Lösung, weil der Antrieb von aussen kommt, weil ich für mein Glück andere brauche, kein selbstbestimmtes Leben führe.» Um herauszufinden, wohin man fahren wolle, müsse man sich selbst und die eigenen Bedürfnisse kennen. In ihren Workshops zum Thema Glück macht Lucia Miggiano jeweils Übungen mit ihren Teilnehmerinnen und Teilnehmern und lässt sie nachher darüber reflektieren. Was hat sich gut angefühlt, was nicht? «Jede und jeder muss für sich entscheiden, welche Person er oder sie sein will. Wichtig ist, authentisch zu sein.» Für sie bedeutet das, ihren Schülerinnen und Schülern auch zu sagen, wenn sie sich geärgert hat oder es ihr schlecht geht. «Wenn ich ein Pokerface mache und so tue, als wäre nichts, bedeutet das, meine Mitmenschen nicht ernst zu nehmen. Die merken nämlich, dass etwas nicht stimmt. Und wenn ich authentisch bin, interessieren sich meine Lernenden auch für mich und das, was ich mache. Wenn ich in Beziehung treten kann, macht mich das zu einer guten Lehrperson.»

Warum Glück als Schulfach? Das Thema ist für Lucia Miggiano systemrelevant. Denn in diesem Fach werden sogenannte «personal skills» vermittelt, Lebenskompetenz, überfachliche Kompetenzen. «Letztlich sind nicht nur Chemie oder Mathe relevant, also die Fachvermittlung, sondern: Wer bin ich? Was brauche ich? Was will ich? Was kann ich?» Die Volksschule sei das einzige Gefäss, das alle durchlaufen, gerade deshalb brauche es dort das Fach Glück. Dort müssten die Schülerinnen und Schüler Selbstfürsorge lernen und erfahren, was sie machen können, wenn es ihnen nicht gut geht, wo sie Werkzeuge erhalten, um ihr Leben positiv zu gestalten und ihr eigenes Glück zu finden. «Und zwar, bevor wir ein Burnout haben.» Dies sei nicht nur Aufgabe der Eltern, sondern eine Aufgabe der ganzen Gesellschaft. «Es ist wichtig zu wissen, was wir können, aber auch, wo unsere Grenzen sind. Es geht darum, Stärken zu stärken und Schwächen anzuerkennen.»

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