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Eine Frage der Perspektive

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Eine Frage der Perspektive

Kolumne | 10. Januar 2022

Unsere Kolumnistin Marah Rikli ist seit der Geburt ihrer Tochter, die mit einer Beeinträchtigung zur Welt kam, empathischer gegenüber anderen Menschen und Familien geworden.

Vor Ronjas * Geburt hatte ich kaum mit beeinträchtigten Kindern zu tun, und das, obwohl in der Schweiz etwa 52 000 Kinder mit einer Behinderung leben. Heute ist das anders. Einerseits bin ich durch meine Tochter sensibilisierter geworden, andererseits bewege ich mich mehr an Orten, wo man sich begegnet. Im Zoo zum Beispiel oder an der heilpädagogischen Schule. Kontakte mit anderen betroffenen Eltern sind für mich bereichernd und entlastend: Für einmal muss ich mich nicht erklären oder mich für das Verhalten meines Kindes entschuldigen. Dazu erfahre ich mehr über andere Familien in ähnlichen Situationen. Und fühle mich dadurch weniger allein mit der herausfordernden Situation.

Zur Autorin

Marah Rikli ist Buchhänd­lerin, Autorin und Journalistin. Sie hat einen Sohn (17 Jahre) sowie eine Tochter (7 Jahre), die mit einer Entwicklungs­störung auf die Welt kam. Hier schreibt sie über ihr Leben mit einem beeinträchtigten Kind.

Viele dieser Kinder sind selbstständiger als unsere Tochter, können den Schulweg zu Fuss bewältigen, gut reden oder schreiben. Andere hingegen werden viele Fähigkeiten nie entwickeln, die Ronja mitbringt. Ronja isst zum Beispiel mit Gabel und Messer, versucht sich anzuziehen. Sie ist lernfähig, macht Fort- und keine Rückschritte und kann mithilfe eines Sprachcomputers kommunizieren. Manchen Kindern fällt es schwer, Kontakt mit Menschen aufzunehmen oder Freundschaften zu schliessen. Sie werden sozial nie so interagieren können wie Ronja. So manches, was mir vor Ronjas Geburt als selbstverständlich erschien, stellte sich damit in den letzten Jahren als «Privileg» heraus.

Ronja kann rennen, hüpfen, vielleicht lernt sie irgendwann Fahrrad oder Ski fahren. Andere Kinder sind körperlich beeinträchtigt. Sie sind auf einen Rollstuhl angewiesen, auf Medikamente oder auf Tag- und Nachtpflege. Sicher, im Vergleich zu durchschnittlich entwickelten Kindern braucht Ronja viel Unterstützung. Doch neben vielen anderen Kindern mit Handicap ist sie wiederum weniger benachteiligt. Auch gesundheitlich haben wir Glück: Ronja weist keine Begleiterkrankungen auf – auch das ist keine Selbstverständlichkeit. 30 bis 40 Prozent der Menschen mit Down-Syndrom zum Beispiel haben einen angeborenen Herzfehler. Kinder mit dem Angelmann-Syndrom leiden fast alle auch an Epilepsie. Kinder mit dem Rett-Syndrom wiederum an Skoliose, einer Verformung der Wirbelsäule.

Seit mir bewusster ist, dass Ronja viel stärker beeinträchtigt sein könnte, bin ich dem Leben und meinem Glück gegenüber demütiger geworden. Und anderen Menschen und Familien gegenüber empathischer. Das Wissen darum, wie belastend bereits unser Alltag ist, lässt mich besser verstehen, wie es anderen Menschen geht, die Schicksalsschläge bewältigen müssen. Ich erinnere mich, als meine Nachbarin einige Jahre vor Ronjas Geburt ein Kind mit Down-Syndrom gebar. Ich nahm ihre Sorgen wenig ernst, dachte, das Kind sei halt einfach ein wenig anders, sonst sei das kein grosses Problem. Durch Ronja hat sich mein Blickwinkel verändert – mittlerweile stehen wir uns sehr nah.

«Bist du bereit, die Welt aus einer Perspektive zu sehen, die nicht deine ist?» Das las ich kürzlich in einem Buch der Politikwissenschaftlerin Emilia Roig. Und erkannte ­meinen Prozess der letzten Jahre wieder. «Wenn ja, wirst du eine tiefe Verbindung zu allen Menschen kultivieren können», schreibt sie weiter. Ich bin bereit dazu. Und Sie?

* Ronja heisst mit richtigem Namen anders.


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