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Digitalisierung im Schulzimmer

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Machen Tablets dumm? (Foto: iStockphoto)

Digitalisierung im Schulzimmer

Pro & Kontra | 10. September 2019

Immer mehr Schulzimmer werden mit Tablets und Computern ausgerüstet. Wie sinnvoll ist der Einsatz digitaler Medien? ­Philippe Wampfler und Manfred Spitzer sind sich nicht einig: Der Social-Media-Experte und Deutschlehrer plädiert für einen sinnvollen Einsatz im Schulzimmer. Der bekannte ­Hirnforscher und Chefarzt warnt – mit teils umstrittenen ­Thesen – vor Verdummung und Verhaltensproblemen.

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Philippe Wampfler, Experte für digitale Bildung

Pro

Philippe Wampfler, Experte für digitale Bildung, Deutschlehrer an der Kantonsschule Enge, Dozent für Fachdidaktik Deutsch an der Uni­versität Zürich sowie Buchautor

In der Stadt Zürich werden Schülerinnen und Schüler ab der 5. Klasse mit digitalen Geräten ausgestattet. Es ist davon auszugehen, dass sie bis zum Ende ihrer Ausbildung und während ihres Arbeitslebens wichtige Aufgaben mit elektronischen Hilfsmitteln erledigen werden. Dass sie in der Schule darauf vorbereitet werden, ist einleuchtend. Zudem ist das Netz zum Leitmedium geworden: Relevantes und aktuelles Wissen wird primär online publiziert und erscheint erst mit zeitlichem Abstand in nicht­digitalen Medien. Das Netz muss als Informationsquelle in der Schule primäre Anlaufstelle sein.

Ein letztes wichtiges Argument, das für die Nutzung digi­taler Medien spricht: In zeitgemässen Arbeits- und Lernformen finden Kooperationen statt. Unterschiedliche Perspektiven kommen zusammen, Arbeiten werden aufgeteilt. Die Vorstellung, ein Mensch müsse alleine eine bestimmte Aufgabe erledigen, ist überholt. Digitale Werkzeuge erleichtern diese Zusammenarbeit und unterstützen sie durch kleine Programme. Die heutige Schule ist noch zu stark an der Vorstellung ausgerichtet, alle müssten für sich alleine etwas lernen. Genauso entscheidend ist die Fähigkeit zu wissen, wann und wie andere einbezogen werden können.

Aus diesen drei Argumenten lässt sich die Forderung ableiten, schon vor der 5. Klasse mit elektronischen Medien zu arbeiten. Dieses Anliegen leuchtet aus einem weiteren Grund ein: Privat greifen Kinder schon ab dem Kindergartenalter auf Smartphones und Tablets zu. Viele Eltern sind darauf angewiesen, dass die Schule Medienkompetenz einübt und vermittelt.

Zeitgemässe digitale Medien ersetzen andere Aktivitäten nicht, sie erweitern sie.
Philippe Wampfler, Experte für digitale Bildung

So naheliegend es erscheint, ab dem Kindergarten digital zu arbeiten und zu lernen, so stark sind die damit verbundenen Befürchtungen. Zum Teil können sie als Abwehrreaktionen verstanden werden: Viele Erwachsene sehen Schule durch die Brille ihrer eigenen Schulerfahrungen und beurteilen Veränderungen als Abweichung davon. Die so erklärbaren Einwände legen sich meist nach einer Gewöhnungsphase.

Andere sind gewichtiger: Sollten Kinder nicht gerade miteinander spielen, Erfahrungen in der Natur sammeln, mit ihren Händen basteln und ihre Umwelt mit allen Sinnen wahrnehmen, statt auf einem Bildschirm Knöpfe zu drücken?

Das Missverständnis liegt beim Wort «statt». Zeitgemässe digitale Medien ersetzen andere Aktivitäten nicht, sie erweitern sie. Kinder bewegen sich im Wald, sie können aber den Käfer, den sie gesehen haben, auch fotografieren und ihn später anderen zeigen. Sie basteln, aber können sich im Lernvideo einen schwierigen Schritt noch einmal ansehen. Sie sprechen miteinander, aber wenn eine schwierige Frage aufkommt, finden sie im Netz eine Ansprechperson, die ihnen Auskunft gibt. Kurz: Digitale Medien überwinden die Beschränkungen des Unterrichtssettings – und zwar genau dann, wenn das nötig ist. Verantwortungs­bewusste Eltern setzen Kindergartenkinder nicht stundenlang vor einen Bildschirm, sondern begleiten den Einsatz elektronischer Medien zu einem geeigneten Zeitpunkt. Genauso verhalten sich medienpädagogisch geschulte Lehrpersonen.

Bleibt ein letzter Einwand: Der Umgang mit digitalen Medien überfordert auch viele Erwachsene. Ständig müssen sie neue, teure Geräte kaufen, immer wieder funktioniert etwas nicht wie gewünscht, Angebote und Werkzeuge verschwinden, verändern sich oder enttäuschen qualitativ. Woher nimmt man die Zeit, das Geld und die Kompetenz, um digitale Arbeit auch noch in der Schule unterzubringen? Auf diese Frage kann ich keine befriedigende Antwort anbieten. Bildung kostet in der Schweiz viel und doch sind die Ressourcen zu knapp, um gute Arbeitsbedingungen für Lehrende und Lernende herzustellen. Ich kann jede Lehrperson verstehen, die grosse Klassen betreuen muss und keine Energie hat, zusätzlich noch die Tabletnutzung zu managen. Ich kann die Bedenken jeder Gemeinde nachvollziehen, die es sich nicht leisten kann, auch für die untersten Klassen digitale Geräte anzuschaffen und zu warten.

Grundsätzlich spricht also viel für den Einsatz digitaler Medien ab dem Kindergarten. Wir müssen aber weiter nach Lösungen suchen, wie der Einsatz konkret umgesetzt werden kann.

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Manfred Spitzer, Hirnforscher

Kontra

Prof. Dr. med. Dr. phil. Manfred Spitzer, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und ­Psycho­therapie am Universitätsklinikum Ulm, Hirnforscher und Bestsellerautor

Digitale Medien nehmen uns geistige Arbeit ab – so wie Rolltreppen, Fahrstühle und Autos uns körperliche Arbeit abnehmen. Die Folgen mangelnder körperlicher Tätigkeit für Muskeln, Herz und Kreislauf sind bekannt. Mit unserem Geist verhält es sich ähnlich. Wenn uns geistige Arbeit abgenommen wird, schadet dies der Leistungsfähigkeit des Gehirns. Was wir früher einfach mit dem Kopf gemacht haben, wird heute von Computern und Smartphones erledigt, was immense Gefahren birgt, insbesondere für Kinder und Jugendliche, deren Gehirne sich noch in Entwicklung befinden. Wer schon als Kleinkind viel Zeit vor Bildschirmen verbringt, zeigt in der Grundschule vermehrt Störungen der Sprachentwicklung und Aufmerksamkeit. Eine Playstation im Grundschulalter verursacht nachweislich schlechte Noten im Lesen und Schreiben sowie Verhaltensprobleme in der Schule, ein Computer im Jugendzimmer wirkt sich negativ auf die Schulleistungen aus und kann zur Sucht führen.

Digitale Medien behindern nachweislich die kognitive Entwicklung von Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter, wie neueste Studien aus den USA und Kanada an jeweils Tausenden von Kindern gezeigt haben. Hinzu kommt, dass digitale Informationstechnik und insbesondere das Smartphone zu erheblichen gesundheitlichen Schäden führen. Nachgewiesen sind Kurzsichtigkeit, Angst, Depression, Demenz, Aufmerksamkeits- und Schlafstörungen, Bewegungsmangel, Übergewicht, Haltungsschäden, Diabetes, Bluthochdruck sowie ein erhöhtes Risikoverhalten beim Geschlechtsverkehr und Strassenverkehr: Die Nutzung von sogenannten Geo-social Networking Apps fördert täglich millionenfachen Gelegenheitssex und damit eben auch die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten. Was den Strassenverkehr anbelangt, so wissen die wenigsten, dass Smartphones mittlerweile bei jüngeren Verkehrsteilnehmern den Alkohol als Unfallursache Nummer eins abgelöst haben.

Digitale Medien lenken die Aufmerksamkeit ab, schaden nachweislich dem Lernen und ­bewirken eine ­geringere Bildung.
Manfred Spitzer, Hirnforscher

Die Digitalisierung von Schulen führt nicht, wie immer wieder behauptet wird, zu einer Verbesserung des Lernens. Sehr viele Studien haben immer wieder gezeigt, dass sie das Lernen verhindern. Verschenkt man iPhones oder lässt man Schüler ihr Smartphone in den Unterricht mitbringen, nimmt das Lernen ab; verbietet man Smartphones, nimmt das Lernen zu, wie eine grosse Studie an über 130 000 Schülern an 90 Schulen im Grossraum London nachweisen konnte. In einigen skandinavischen Ländern – Schweden, Finnland und auch Dänemark – wurde die Digitalisierung der Schulen im vergangenen Jahrzehnt stark vorangetrieben. Das Ergebnis war eine deutliche Verminderung der Schulleistungen der Kinder in diesen Ländern, wie eine vergleichende Auswertung der Daten von über 50 Ländern aus den PISA-Studien zeigte: Der Zusammenhang zwischen den Ausgaben für Computer an Schulen in den einzelnen Ländern und den Leistungen der Jugendlichen in Mathematik erwies sich als negativ, das heisst, je mehr in einem Land in Computer an Schulen (pro Schüler) investiert wurde, desto schlechter wurden die Leistungen der Schüler in diesem Land. Besser kann man die verheerenden Auswirkungen der Digitalisierung von Schulen kaum demonstrieren.

Betrachten wir Beispiele dieser weltweiten Misere: War Finnland zu Beginn der PISA-Erhebungen vor knapp 20 Jahren noch als (von vielen Ländern beneideter) Sieger hervorgegangen, so liegt das Land inzwischen im Mittelfeld. Es wurde dort viel Geld in die Digitalisierung von Schulen gesteckt. Ebenso erging es Australien. Dort investierte man im Jahr 2008 2,4 Milliarden australische ­Dollar in Computer an Schulen, um sie im Jahr 2016 wieder abzuschaffen. In den vergangenen Jahren war in allen Medien und von vielen Politikern immer wieder gebetsmühlenhaft zu lesen und zu hören, dass Deutschland bei der Digitalisierung von Schulen noch abgeschlagen weit hinten läge – glücklicherweise! Denn die deutschen Schüler sind in ihren PISA-Ergebnissen in den letzten Jahren um etwa zehn Prozent besser geworden.

Digitale Medien lenken die Aufmerksamkeit ab, schaden nachweislich dem Lernen und bewirken eine geringere Bildung. Übrigens: Beim Mitschreiben im Unterricht oder während der Vorlesung wird mehr gelernt als beim Tippen am Computer, wie eine grosse Studie aus den USA belegen konnte.

Weiterhin zeigt sich immer wieder: Je weniger gebildet ein Mensch ist, desto mehr schadet ihm digitale Informationstechnik. Daher schaden Computer an Schulen vor allem den schwächeren Schülern. Es wird zwar immer wieder behauptet, dass vor allem sozial benachteiligte und schwächere junge Menschen von der Digitalisierung profitieren würden. Dies ist jedoch ideologisch motiviertes Wunschdenken. Betrachtet man nämlich die hierzu vorliegenden Fakten, so zeigt sich das genaue Gegenteil: Schwache Schüler leiden unter der Digitalisierung von Schulen am stärksten.