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Illustration von Daniel Müller

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Kolumne | 22. Februar 2024

So geht Fabel heute! Wir begrüssen mit Lorenz Pauli einen neuen Kolumnisten für unser Magazin «Rundgang». Im ersten Beitrag erzählt er, wie es kam, dass der Vogel mit den Streifen, Punkten und Sprenkeln auf eigenen Nestbau verzichtet ...

«Zwar ist alles gut, aber es könnte besser sein. Nur wer stets nach Veränderung und Verbesserung strebt, wird glücklich», wusste der Vogel mit den Streifen, Punkten und Sprenkeln im Gefieder und sah zu den anderen Vögeln hinüber. Diese bauten seit Tagen an ihren Nestern, wie sie es schon immer getan hatten.

Der Vogel mit den Streifen, Punkten und Sprenkeln schüttelte den Kopf. «Wer sich zufriedengibt, wird sich niemals weiterentwickeln. Und wer sich nicht weiterentwickelt, wird immer nur zufrieden bleiben. Wo man doch auch sehr zufrieden sein könnte, wenn man nicht immer gleich zufrieden war. Das braucht etwas Anstrengung, aber diese zahlt sich aus.»

Und der Vogel mit den Streifen, Punkten und Sprenkeln strengte sich an! Er begann ein Nest zu bauen, wie es die Welt noch nie gesehen hatte: mit verschiedenen Abteilungen (da für die Eier, hier für die Nestlinge), mit Dach (falls es regnen sollte), mit Vordach (falls es schräg regnen sollte) und mit Fallschutz (für allfällig übermütigen, ungeschickten Nachwuchs). Das Nest wuchs und wurde immer besser, durchdachter und imposanter. Nun sollte das Nest nicht nur funktional aufgewertet werden, sondern auch eine individuelle Gestaltung erhalten. «Schmücken schafft Entzücken!»

Es war eine Pracht.

Die anderen Vögel waren beeindruckt. «Denkst du, dass du nun am Ziel bist?», fragte ihn einer der Vögel. Der Vogel mit den Streifen, Punkten und Sprenkeln verneinte. «Bestimmt ist es das beste Nest, das es je gegeben hat. Aber ich werde es dennoch weiter verbessern. Ich muss kritisch bleiben. Es fehlt beispielsweise noch ein Vorgarten ...»

Das schöne, auffällige Nest fand überall Beachtung. Überall: Als unser Vogel seine Eier gelegt hatte, dauerte es nicht lange, bis das Eichhörnchen sich die Eier holte. Weil das Eichhörnchen sich den Kopf am Dach stiess, kam das Dach in Schräglage und kippte zur gemütlichen Terrasse mit Wurmablageplatz hin. Die Anflugpiste knickte ein. Damit geriet das ganze Nest aus der Balance und stürzte ab.

Das Eichhörnchen war froh, die Eier zuvor in Sicherheit gebracht zu haben. Es wäre schade um die Leckerei gewesen, fand es.

Die anderen Vögel versuchten an diesem Abend von ihren Nestern aus, mitleidvolle Blicke zum Vogel mit den Streifen, Punkten und Sprenkeln zu schicken. Sie wollten ihren eigenen Jungen, die wie jedes Jahr bestens gediehen, ein gutes Vorbild sein. Schadenfreude war nichts, was man der Nachkommenschaft beibringen wollte.

Einer der Vögel legte behutsam den Flügel um den Pechvogel und sprach: «Wenn etwas gut ist, dann lass es gut sein. Freu dich darüber, dass es ist, wie es ist! Manches im Leben sollte man neu anpacken. Manches kann man verbessern. Aber vieles darf auch so bleiben, wie es ist.» Etwas nahm sich der Vogel mit den Streifen, Punkten und Sprenkeln besonders zu Herzen: die Idee, etwas neu anzupacken. Schon in der nächsten Brutzeit verzichtete er gänzlich auf ein eigenes Nest. Unbemerkt legte er den anderen ein Ei in deren Nest. Warum zum Kuckuck war er nicht schon früher darauf gekommen?


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Zum Autor

Lorenz Pauli ist seit 2013 als freier Schriftsteller, Erzähler und – wie er sich selbst bezeichnet – Fantasie-Gärtner tätig. 25 Jahre lang arbeitete er als Kindergärtner und bildete sich auch in der Erwachsenenbildung fort. Seine Geschichten, Hörspiele und Liedertexte schreibt er für Kinder zwischen vier und elf Jahren und alle anderen, die sich daran erfreuen.