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Disziplin – ein pädagogisch ­ambivalentes ­ Phänomen

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Schule im Wandel der Zeit: Was früher normal war, gilt heute oft als verpönt. Etwa, wie die Lehrerin für Disziplin im Klassenzimmer sorgt.

Disziplin – ein pädagogisch ­ambivalentes ­ Phänomen

new@school | 15. Januar 2019

Wie schaffen es Lehrerinnen und Lehrer, für Ruhe und Ordnung im Schulzimmer zu sorgen? Erzie­hungswissen­schafter Roland Reichenbach erklärt in unserer Rubrik für frischgebackene Lehrpersonen, warum es Kollaborateure braucht und wie Befehl und Disziplin zusammenhängen.

Vor 45 Jahren besuchte ich die Sekundarschule. Unser Klassenlehrer hiess Rettenmund, er war damals ein alter, ziemlich autoritärer Mann und unterrichtete uns unter anderem im Fach Französisch. Betrat er das Klassenzimmer, hatten wir Schülerinnen und Schüler schon stramm, jedenfalls still hinter unseren Pulten zu stehen. Wie auf ein Kommando riefen oder schrien wir: «Bonjour Monsieur Rettenmund!» Herr Rettenmund entgegnete dann: «Bonjour la classe! Asseyez-vous!» Und während wir uns setzten, tönte aus unseren Kehlen der kurze Choral: «Nous nous asseyons.»

Der Beginn der Stunde war also ritualisiert und orchestriert, die Rollen klar verteilt, das fixe Sozialverhalten konzertiert. Das war sehr ökonomisch und wir empfanden dies keineswegs als Zumutung oder Unterwerfungsgeste, vielmehr diente unser lautes Grüssen schon einer ersten Triebabfuhr. Und jeder und jede hörte in Rettenmunds Stunde bereits zu Beginn seine beziehungsweise ihre eigene Stimme (das ist weniger selbstverständlich, als man denkt).

Kinder «sammeln»

Im Lehrerseminar lernte ich später, dass das so gar nicht geht! Die Lehrperson müsse die Klasse, wenn sie das Zimmer betrete, zunächst einmal «sammeln», das heisst konkret mehr oder weniger subtil mit einem Blick die noch bestehenden Unruheherde – spielende, raufende und/oder schreiende Kinder – in den Fokus nehmen. Man rechnete offenbar gar nicht damit, dass Ruhe sein könnte oder sollte, sobald der Lehrer das Zimmer betritt.

Wenn unruhige Kinder dann nach einer gewissen Zeit merkten, dass die Lehrperson schon länger anwesend sei und es irgendwie ernst meine mit dem Unterricht, dann würden sie sich endlich an ihre Pulte setzen und aufmerksam dem Unterrichtsbeginn beiwohnen. Diese (nötige) Disziplinierung – also die Herstellung einer Ordnung – geschieht faktisch allerdings nicht ohne «Kollaborateure», die schon von Beginn an und freiwillig an den Pulten sitzen, wenn der Lehrer kommt. Diese Kollaborateure wurden und werden manchmal despektierlich «Streber» genannt. Sie sitzen meist vorne, in der Nähe des Lehrerpults, während die trouble makers traditionell hinten sitzen, jedenfalls so weit wie möglich von der Lehrperson entfernt. Treibt es einer dieser Schüler zu bunt, muss er zur Strafe oder einfach zur näheren Beobachtung eine Weile ganz vorne beim Lehrerpult sitzen, was die anderen – die noch knapp Davongekommenen – hinten an ihren Pulten mit Lauten der kollegialen Schadenfreude kommentieren oder quittieren.

Die Kollaborateure dürfen nicht merken, wie wichtig sie für den Lehrer sind. Sie helfen ihm beim «Sammeln» sehr, indem sie die anderen etwa ermahnen: «Psst! Der Lehrer ist da! Wir wollen anfangen!» Natürlich möchten sie dem Lehrer damit gefallen (es sind ja «Streber», wie die anderen wissen).

Die Lehrperson tut vielleicht so, als ob es auf diese Unterstützung nicht ankäme. Doch ohne sie ist sie in Tat und Wahrheit ziemlich machtlos. Führungspersonen sind von den Geführten immer abhängig, nicht nur die Letzteren von den Ersteren. Zwar handelt es sich um asymmetrische Beziehungen, doch diese sind meist von wechselseitiger Abhängigkeit geprägt. Das wissen zwar alle, die darüber vertieft nachdenken. Dennoch ist im deutschsprachigen Raum die Diskussion jeweils stark emotional geprägt, wenn von Disziplin und Autorität die Rede ist.

Asymmetrische Beziehung

Die Pädagogik bekundet bis heute eine gewisse Mühe, die Asymmetrien der Beziehungen zwischen Eltern und Kind, Lehrpersonen und Schülerinnen sowie Vorgesetzten und Mitarbeitern so zu beschreiben, dass die Beschreibung inhaltlich treffend erscheint und gleichzeitig (politisch) akzeptierbar ist. Meist wird also übersehen, dass insbesondere asymmetrische Beziehungsformen oft zugleich wechselseitig abhängige Beziehungsformen darstellen: Eltern hängen von der Folgsamkeit ihrer Kinder ab, Lehrerinnen und Lehrer davon, dass sich die Schülerinnen und Schüler etwas zeigen und sagen lassen, und Vorgesetzte sind ohne den guten Willen der Mitarbeitenden machtlos. Wer Handlungsanweisungen geben kann, ist davon abhängig, dass diese befolgt werden.

Am Sprechakt des Befehlens selbst lässt sich vielleicht am besten zeigen, worin die Leistung rollenkomplementärer Kommunikation – zum Beispiel Lehrperson–Schülerin –besteht. «Der Befehl ist älter als die Sprache, sonst würden ihn Hunde nicht verstehen», schrieb Elias Canetti in «Masse und Macht» (1985/1960, S. 335) und führt fort: «Das Dressieren von Tieren beruht eben darauf, dass sie, ohne eine Sprache zu kennen, begreifen lernen, was man von ihnen will.»

Das Endgültige und Indiskutable des «Befehl ist Befehl» scheine mit ein Grund zu sein, warum man sich psychologisch mit der Bedeutung des Befehls kaum befasst habe. «Von klein auf ist man an Befehle gewöhnt», so Canetti, «aus ihnen besteht zum guten Teil, was man Erziehung nennt; auch das ganze erwachsene Leben ist von ihnen durchsetzt, ob es nun um die Sphären der Arbeit, des Kampfes oder des Glaubens geht» (ebd.). Wer dem Befehl gehorcht, anerkennt die Autorität des Befehlenden und garantiert somit eine bestimmte Disziplin.

Natürlich ist das Wort «Befehl» heute diffamiert. Man «teilt keine Befehle aus», sondern «gibt Anweisungen», «drückt Erwartungen aus», «hofft auf Entgegenkommen», «auf Einsicht», «wünscht Ruhe» und dass «alle mitmachen» etc. Die Kaschierung der Befehlsstruktur ist politisch geboten, aber der Stachel des Befehls bleibt.

Unterschied Disziplin und Disziplinierung

Pädagogisch ist zwischen Disziplinierung und Disziplin zu unterscheiden. Disziplinierung ist das Herstellen einer bestimmten Ordnung. Disziplinierung ist kein Erziehungsziel, sondern die Voraussetzung von Erziehung und Unterricht. Die Kinder sollen still sein können, ruhig sitzen bleiben, zuhören, aufmerksam sein. Wie dieser Zustand jeweils hergestellt wird, wie lange er anhält, das ist sehr variabel. Er muss aber auf die eine oder andere, möglichst legitim erscheinende Weise hergestellt werden.

Die Angst vor Bestrafung gilt heute nicht mehr als legitimes Mittel im Klassenraum, doch der weitgehend unsichtbare und mancherorts verbreitete Einsatz von Ritalin ist wirkungsvoll und wird gar nicht als Disziplinierungsakt erkannt. Der kindliche und jugendliche Körper wird institutionell diszipliniert. Das ist keine Frage, höchstens ein Tabu.

Die Angst vor Bestra­fung gilt heute nicht mehr als legitimes Mittel im Klassenraum, doch der weitgehend unsichtbare und mancherorts verbreitete Einsatz von Ritalin ist wirkungsvoll und wird gar nicht als Diszipli­nierungsakt erkannt.
Prof. Dr. Roland Reichenbach

Disziplin kann im Unterschied zu Disziplinierung als Ziel von Bildung und Erziehung gelten. Wir achten jemanden, der sich diszipliniert für eine Sache einsetzt, der «selbstdiszipliniert» versucht, sein Leben zu ändern, der sich in einer wissenschaftlichen Disziplin gut auskennt oder es in einer sportlichen Disziplin weit gebracht hat.

Mühe mit sozialen Ungleichheiten

Unsere Epoche bekundet Mühe, die sozialen Ungleichheiten zwischen alten und jungen Menschen, gebildeten und noch kaum gebildeten, erfahrenen und unerfahrenen, kompetenten und wenig kompetenten Menschen anders als in symmetrischen Vokabularen (partnerschaftlich, gemeinsam, konsensuell, gleichberechtigt . . .) zu beschreiben. Diese politisch korrekte Unaufrichtigkeit trägt kaum dazu bei, die ambivalenten Phänomene des Pädagogischen angemessen zu verstehen. Doch: Wer (letztlich) gehorchen muss, kann nicht (frei) zustimmen – und wer befehlen kann, muss nicht auf Argumente hören (aber er kann so tun, als ob). Besonders in demokratischen Gemeinwesen gehört es zur Bildung der Kinder und Jugendlichen und später der Erwachsenen, diese bereichstypischen Unaufrichtigkeiten zu erkennen und zu ertragen, also «dennoch» bereit zu sein, mit dem eigenen Verhalten zur Aufrechterhaltung der äusseren Ordnung

beizutragen.

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Prof. Dr. Roland Reichenbach ist Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich. ­Zudem ist er Vizepräsident der Gesellschaft für Bildung und Wissen. Von 2011 bis 2016 war er Herausgeber der «Zeitschrift für Pädagogik» sowie von 2013 bis 2015 Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Bildungsforschung.


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