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Kolumne

Menschenfreundin

In ihrer letzten Kolumne für unser Magazin «Rundgang» beschreibt Marah Rikli, wie emphatisch ihre Tochter mit anderen Menschen in Verbindung tritt. Dem neunjährigen Kind mit Behinderung reichen dafür drei Wörter.

Ronja* ist ein Beziehungsmensch. Sie will mit anderen in Kontakt treten und Menschen kennen lernen, die ihr sympathisch sind. Dafür lässt sie sich auch auf Unbekannte ein, die ihr zum Beispiel im Zug begegnen. Sie zeigt ihr Interesse, indem sie den Schmuck begutachtet, den diese Menschen tragen, in ihre Haare fassen möchte, ihre Tattoos und Piercings bewundert oder ihre Einkäufe untersucht.

Um Menschen ihre Geschichten zu entlocken, hat Ronja eine Strategie entwickelt, die mich immer wieder überrascht. Als Erstes fragt sie: «Mami? Papi?» Damit meint sie, ob er oder sie eine Mami oder ein Papi ist. Darauf folgt «Wo?». Also, wo die Eltern der befragten Person sind. Ich übersetze das jedes Mal, weil Ronja sonst nicht locker lässt. Praktisch alle reagieren positiv darauf.

Die Fragen von Ronja zu Mami und Papi waren mir trotzdem zeitweise unangenehm, da ich meine Kinder offen für verschiedenste Familienmodelle erziehen wollte. Ich erklärte Ronja, dass nicht alle Menschen Kinder haben. Und nicht alle mit einer Mami und einem Papi wohnen, dass es die unterschiedlichsten Familien gibt. Mit unserem Patchwork-Modell praktizieren wir ja selbst ein diverses. Bis ich merkte: Ronja ist das Familienmodell der Menschen egal. Alle sollen leben, wie sie wollen, Ronja würde das nie beurteilen. Ihr geht es bei der Frage nach Mami und Papi darum, einen Zugang zu den Menschen und ihren Emotionen zu finden. Die drei Wörter «Mami», «Papi» und «wo» sind für Ronja wie der Schlüssel zu einer Tür, die viele meist verschlossen halten. Ein Schlüssel zu Geschichten und Gefühlen.

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Die angesprochenen Leute erzählen ihr und damit auch mir von sich, von ihrem Leben, ihren Wünschen, ihrem Schmerz und ihren Freuden. Von ihren Eltern oder Kindern, von ihrer Kinderlosigkeit oder ihrer Beziehung zu den Neffen, Pflegekindern oder verstorbenen Kindern. Häufig folgen Anekdoten aus ihrer Kindheit oder von Geschwistern und von Verlusten. Von Tod oder Trauer, von Krankheit oder Familienstreit. Ronja zeigt dann manchmal die Gebärde für «Träne» oder «traurig». Ihr Gegenüber ist oft gerührt. Schon mehr als einmal habe ich plötzlich eine Hand in meiner gespürt und gedrückt.

Ronja hat erkannt, dass alle Menschen etwas über diese drei simplen Wörter zu sagen haben. Denn alle haben in irgendeiner Weise eine Beziehung zu ihren Eltern, sei sie noch so entfernt-distanziert oder bestenfalls liebevoll und bereichernd. Ich staune selbst immer wieder, wie wenig Lautsprache nötig ist, um miteinander in Verbindung zu treten. Was Ronja uns vor Augen führt: Es braucht vor allem jemanden, der fragt, zuhört und annimmt.

Ronja ist im Umgang mit Menschen meine Lehrerin. Ich hatte viele Vorurteile, bevor ich mit ihr so intensiv unterwegs war. Schaute ein Mann grimmig, dachte ich, er wäre ein unfreundlicher Kerl. Nun erfahre ich durch Ronja, dass er einfach müde ist oder sein Vater gerade angerufen hat und krank ist. Ich verurteilte vielleicht auch die junge Frau, die nur auf ihr Handy starrte und ignorant wirkte. Wenn Ronja sie heute anspricht, weiss ich danach, sie hat ihre Lehrstelle verloren oder ihre Situation zuhause ist schwierig.

Ronja habe wenig Lautsprache, autistische Züge, eine Behinderung und eine geminderte Intelligenz, heisst es in den Berichten der Fachpersonen. Ich würde sagen: Ronja ist hochbegabt in Sachen Empathie und Menschenliebe, im Netzwerken und darin, eine Verbindung zu schaffen.

 

Marah Rikli

Zur Autorin

Marah Rikli ist Journalistin, Moderatorin und Buchhändlerin. Sie hat einen Sohn (19 Jahre) sowie eine Tochter (9 Jahre), die mit einer Entwicklungs­störung auf die Welt kam. Für den «Rundgang» gab sie drei Jahre lang wertvolle Einblicke in ihr Leben mit einem Kind mit Behinderung, in dieser berührenden Kolumne nun zum letzten Mal – wir sagen herzlichen Dank!

 


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