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Interview
Die Schönheit der Mathematik
Erich Christian Wittmann, Mitgründer der deutschen Version des «Zahlenbuchs» und damit auch Wegbereiter für das «Schweizer Zahlenbuch», erzählt im Interview von Erfolgen, Erfahrungen und Erkenntnissen aus der Welt der Mathematik.
- Veröffentlicht:13.09.2023
- Autorin:Pamela Nussbaumer
- Bild:Klett und Balmer Verlag
Herr Wittmann, was ist aus Ihrer Sicht Sinn und Zweck von Mathematik für das Leben eines Kindes?
Erich Ch. Wittmann: Mathematik ist ein unverzichtbarer Teil der Allgemeinbildung und umfasst drei Aspekte: erstens das Verständnis für den Nutzen der Mathematik in vielen Bereichen des menschlichen Lebens; zweitens ein Gefühl dafür, dass die Mathematik eine eigene Welt voller schöner Strukturen ist, in der es Theorien und Beweise gibt; und drittens, dass die Mathematik eine Schule des Denkens ist.
Welche Bedeutung hat die Mathematik für Ihr eigenes Leben?
Ich schätze mich glücklich, in einer Zeit aufgewachsen zu sein, in der diese drei Aspekte der Mathematik präsent waren, zumindest in den Lehrplänen der Gymnasien. Ich lebe sie auch heute noch, insbesondere bin ich elementarmathematisch aktiv, und erfreue mich immer wieder aufs Neue der kleinen und grossen Schönheiten, die es dabei zu entdecken gibt.
Nützliche und gleichzeitig schöne Mathematik, die man spielerisch erforschen kann: Das passt!Prof. Dr. Erich Christian Wittmann
Was hat bei Ihnen die Freude an der Mathematik geweckt?
Ich bin in einem kleinen Dorf gross geworden und hatte das Glück, dass bei uns zuhause ein Geometriebuch meines über fünfzehn Jahre älteren Bruders Hans herumlag. Er wurde nach seinem Abitur 1942 eingezogen und fiel wenige Tage vor Kriegsende bei Danzig. Mangels anderer Lektüre habe ich viele Stunden damit verbracht, die Aufgaben in diesem Buch zu lösen. Die Schule bereitete mir keine Mühe und auf unserem Bauernhof gab es für mich, besonders im Winter, nicht viel zu tun. So hatte ich Zeit, mich in die Geometrie zu vertiefen.
Wie kam das Projekt «Mathe 2000» * zustande?
1985 wurde im deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen ein neuer Lehrplan für die Grundschule erlassen, bei dessen Entwicklung Heinrich Winter, ein angesehener Mathematikdidaktiker und Professor, die Federführung innehatte. Dieser Lehrplan eröffnete Möglichkeiten für einen Unterricht, wie er meinem Kollegen Gerhard Müller und mir immer vorgeschwebt hat, und gab uns damit den Anstoss zur Gründung von «Mathe 2000».
* Was ist «Mathe 2000»?
«Mathe 2000» wurde 1987 in Zusammenarbeit der Lehrstühle «Grundlagen der Mathematik» (Prof. Dr. Erich Ch. Wittmann) und «Didaktik der Primarstufe» (Prof. Dr. Gerhard N. Müller) an der Universität Dortmund gegründet. Die Mathematik wird als lebendige Wissenschaft von (schönen und nützlichen) Mustern auf-gefasst. Wichtig für das Lernen sind aber nicht die fertigen Muster, sondern die Prozesse, die zur Erkenntnis von Mustern führen. Daher wird dem spielerischen Erforschen, Fortsetzen, Verändern und Erfinden von Mustern ein breiter Raum gegeben.
Was macht ein gutes Mathematiklehrmittel aus und wie manifestiert sich dies im «Zahlenbuch»?
Ein gutes Lehrmittel bringt Nützlichkeit und Schönheit der Mathematik authentisch zur Geltung und regt die Kinder zum Denken an. Ich wage zu behaupten, dass das «Zahlenbuch» hier neue Massstäbe gesetzt hat. Wesentlich ist dabei eine erweiterte Sichtweise des Übens: Wir unterscheiden zwischen grundlegenden, produktiven Übungen sowie Übungen zur Automatisierung. Letztere spielten bereits im traditionellen Unterricht eine zentrale Rolle und mit unserem «Blitzrechnen» führen wir dies bewusst weiter. Nützliche und gleichzeitig schöne Mathematik, die man spielerisch erforschen kann, kombiniert mit systematischem Üben für die Grundfertigkeiten: Das passt!
Was bedeutet «Mathematik lernen»?
Hier ziehe ich gerne die Parallele zum Sport: Genauso, wie man im Sport trainieren muss, um Kräfte und Technik zu verbessern, muss man auch beim Mathematiklernen aktiv bleiben. Und wie im Sport sind auch in der Mathematik die Voraussetzungen von Kind zu Kind unterschiedlich. Im «Zahlenbuch» wird daher auf eine natürliche Differenzierung viel Wert gelegt. Das «Blitzrechnen» funktioniert ebenso als Förderkurs und kann helfen, eine Klasse zusammenzuhalten.
Welche Veränderungen in der Mathematikdidaktik haben Sie im Laufe der Zeit festgestellt?
Für mich ist es offensichtlich, dass die europäischen Länder ihre guten Bildungstraditionen in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr aufgegeben und dafür Organisationsformen aus den USA importiert haben. Diese Amerikanisierung ist auch an der Mathematikdidaktik nicht spurlos vorbeigegangen. Persönlich halte ich das für einen grossen Fehler. Die USA mögen in anderen Bereichen als Vorbild gelten, in der Schulpolitik sind sie es sicher nicht.
Was hat sich sonst noch verändert?
Emil Oesch, er war Schriftsteller und Verleger und auch in der Schweiz kein Unbekannter, hat einmal geschrieben: «Wer die Laufbahn seiner Kinder zu verpfuschen gedenkt, räume ihnen alle Hindernisse aus dem Weg.» Dass Kinder sich anstrengen können und müssen, um etwas zu erreichen, und dass sie dabei wachsen und gestärkt werden, liegt auf der Hand. Im «Zahlenbuch» werden den Kindern keine Hindernisse aus dem Weg geräumt. Die natürliche Differenzierung sorgt aber dafür, dass kein Kind überfordert wird. Für eine Lehrperson gibt es doch nichts Schöneres, als sich mit dem Kind mitzufreuen, wenn es eine schwierige Aufgabe korrekt lösen konnte.
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