- Aussensicht
Kolumne
Wenn du gross bist
Noch ist es eine Weile hin. Aber unsere Kolumnistin Marah Rikli macht sich trotzdem Gedanken: Was wird die Pubertät für ihre Tochter bedeuten, die mit einer Entwicklungsstörung auf die Welt kam?
- Veröffentlicht:15.09.2022
- Autorin:Marah Rikli
- Bild:Derek Roczen
«Kleine Kinder, kleine Probleme – grosse Kinder, grosse Probleme», sagte mir meine Mutter in der Kleinkindphase meines Sohnes. Und ich verdrehte die Augen. Als er vor ein paar Jahren in die Pubertät kam, merkte ich jedoch schnell: Die Herausforderungen dieser Phase habe ich definitiv unterschätzt, auf einige Probleme war ich viel zu wenig vorbereitet.
Mit Ronja * habe ich zwar noch etwas Zeit: Diesen Sommer feierten wir ihren achten Geburtstag. Und doch kann ich es manchmal kaum fassen, wie die Zeit rast. Bald wird sie ebenfalls eine Jugendliche sein. Wie sie sich bis dahin wohl weiterentwickelt? Wird sie eine Ausbildung ausserhalb einer Institution absolvieren können und wollen? Wird selbstständiges Wohnen ein Wunsch von ihr sein? Sie macht gerade viele Fortschritte, vor allem in der Kommunikation – das stimmt mich optimistisch. Und trotzdem frage ich mich: Was bedeutet die Adoleszenz für ein Mädchen mit einer Entwicklungsstörung? Wie wird Ronja damit umgehen, wenn sich ihr Körper verändert? Wie wird sie reagieren, wenn sie ihre Menstruation bekommt?
Wird sie irgendwann einen Kinderwunsch verspüren, einen Partner oder eine Partnerin im Leben wollen? Und wie bereite ich sie als Mutter auf diesen Lebensabschnitt vor? Ich möchte Ronja in den nächsten Jahren noch mehr Selbstbestimmung geben, sie noch mehr in ihrer Selbstständigkeit fördern. Inwieweit soll ich sie dabei aber auch aufklären und schützen?
Zum Beispiel über eine mögliche Schwangerschaft und vor sexualisierter Gewalt und Übergriffen. Denn Studien belegen: Mädchen und Frauen mit Behinderungen werden sehr oft Opfer von sexualisierter Gewalt. Ich wünschte mir, ich hätte bei diesen Fragen mehr Unterstützung. Doch das Thema Pubertät, Sexualität, sexualisierte Gewalt und Behinderung ist noch immer stark tabuisiert. Es gibt kaum Bücher oder Aufklärungsmaterialien und sowohl in der Elternberatung wie auch in der Begleitung von Menschen mit Behinderungen selbst wird das Thema häufig ausgeklammert.
Umso erfreulicher, wenn ich auf neue Projekte dazu stosse. Vor ein paar Wochen entdeckte ich die Website «Ganz Frau» von «Avanti Donne», der Interessenvertretung von Mädchen und Frauen mit Behinderungen. Das Projekt lädt dazu ein, sich mit dem Thema Sexualität, Liebe und Behinderung auseinanderzusetzen – sofort habe ich mir die Broschüre dazu bestellt. Zudem durfte ich kürzlich mit Agota Lavoyer, der Autorin und Expertin für den Umgang mit sexualisierter Gewalt, über ihr soeben erschienenes Buch «Ist das okay?» sprechen. Sie sagte mir im Interview, auch Kinder mit Behinderungen und ohne Lautsprache sollten Begriffe wie Vulva oder Penis erlernen. Etwa mit Piktogrammen oder einem Kommunikationsgerät. Das Buch kann ich sehr empfehlen.
Zur Autorin
Marah Rikli ist Buchhändlerin, Autorin und Journalistin. Sie hat einen Sohn (18 Jahre) sowie eine Tochter (8 Jahre), die mit einer Entwicklungsstörung auf die Welt kam. Hier schreibt sie über ihr Leben mit einem Kind mit Behinderung.
Wie Ronjas Pubertät verlaufen wird, ist offen. Genauso wie ich nicht wusste, was mich mit meinem Sohn erwartet, wird auch sie mich überraschen. Ich freue mich trotz den Sorgen auf diese Zeit: Im Moment tanzen und singen wir viel. «Wenn du gross bist, tanzen wir zusammen in der Disco», rief ich ihr gestern im Wohnzimmer zu, während Taylor Swifts «Shake it Off» aus der Box dröhnte. Sie lachte. Vielleicht nicht aus Zustimmung, sondern weil sie jetzt schon weiss: Ich gehe da ohne mein Mami hin!
* Ronja heisst mit richtigem Namen anders.
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