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Kolumne

Der Apfel ist gut, die Banane ist schlecht

Unsere Kolumnistin Nicole Althaus wundert sich über das Essverhalten der jüngsten Generation.

Wenn ich Ethnologin wäre, würde ich permanent Zug fahren. Nirgendwo sonst lernt man die Gepflogenheiten eines Landes besser kennen. Wer mir nicht glaubt, muss an einem beliebigen Schönwettertag durch die Schweiz reisen. Er wird sofort lernen, dass ihre Bewohner das Unbekannte genauso meiden wie ein Zuviel an Leben. Kaum ein Fahrgast setzt sich freiwillig zu Fremden in ein Abteil und fast alle Passagiere ergreifen sofort die Flucht, wenn sie in einem Waggon auf eine Horde Primarschüler ­treffen: Zu ungestüm, zu lebendig, zu laut ist es hier. Dabei wäre gerade neben Lisa, Leon und Lena der letzte freie Platz im vollgepackten Zug zu finden. Und man würde einiges über die Befindlichkeit der jüngsten Generation im Land erfahren.

Genau wie wir damals plündern die Kinder, kaum sitzen sie auf ihren Plätzen, ihren Rucksack. Doch statt Chips, Schokolade oder Bonbons kramen sie Äpfel, Nüsse und allenfalls einen verwegenen Müesliriegel aus den Untiefen hervor. Und wenn sie dem Nachbarskind einen Kaugummi anbieten, ist er garantiert zuckerfrei. Kulisse und Personal sind beim typischen Schweizer Ritual namens Schulreise gleich geblieben, doch die Anweisungen der Regie haben sich geändert: Schulbehörden und Eltern sorgen heute nicht mehr dafür, dass die Kinder etwas Geeignetes zum «Bräteln» mitbringen, sondern etwas möglichst Gesundes soll es sein. Einen Cervelat am Stock über dem Feuer zu braten war einst der Höhepunkt der Schulreise. Schaut man den Kindern beim Nüsslipicken zu, muss man befürchten, dass dieser Spass der politischen Korrektheit zum Opfer gefallen ist: zu gefährlich, zu ungesund.

Zur Autorin

Nicole Althaus ist Kolumnistin, Autorin und Chefredaktorin Magazine der NZZ. Sie hat zuvor den Mamablog für Tages­anzeiger.ch lanciert und das Familienmagazin «wir eltern» geleitet und neu positioniert. Nicole Althaus hat zwei ­Töchter im Teenageralter und lebt in der Nähe von Zürich.

Das Essen hat in unserer Gesellschaft den moralischen Stellenwert eingenommen, den Sex bis vor ein paar Jahrzehnten noch innehatte. Schon im Kindergarten lernen die Jüngsten, dass ein Apfel gut, eine Banane schlecht und eine Milchschnitte zum Znüni nur etwas für Unaufgeklärte ist. Haben sie die Primarschule hinter sich, zählen sie Kalorien mit derselben Inbrunst wie unsereins damals heimliche Küsse. Vor fünfzig Jahren noch war es der Sex, der an strikte moralische Regeln gebunden war, während beim Essen nur der persönliche Geschmack zählte. Heute ist es umgekehrt: Gesunde Ernährung ist ein moralischer Imperativ. Veganer und Fruktarier basteln sich aus dem Inhalt ihres Kühlschranks – beziehungsweise aus dem, was sich nicht darin findet – eine ganze Lebenshaltung. Sex aber ist nur noch eine Frage der persönlichen Vorlieben.

Kein Wunder, meldet sich das schlechte Gewissen heute am Tisch und nicht im Bett: Der moderne Sündenfall ist ein Stück Schokolade, über die Stränge haut, wer bei ­McDonald’s fremdgeht. Gesundes Essen ist zum Glaubensbekenntnis der säkularisierten Gesellschaft ­geworden.

Und wie bei jedem orthodoxen Weltbild ist das, was verboten ist, besonders interessant: Auf Instagram hat das Food-Selfie Kultstatus erreicht. Influencer schauen mit Schlafzimmerblick in die Kamera und liebkosen mit dem Mund ein Stück Pizza oder lecken lüstern an einer Glace. Schaut her, wie schlank und verwegen ich bin! Das sagen diese Bilder und etablieren eine neue Ikonografie der Lust, in der Junk-Food den Verführer spielt. Ob diese Ernährungs­korrektheit Kinder mit gesundem Körpergefühl hervorbringt? Darauf würde ich keinen Apfel verwetten.


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