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Kolumne

Es ist nie zu früh...

Lorenz Pauli liefert bereits seine zweite Kolumne – dieses Mal exklusiv für unseren neuen «Rundgang»-Blog!

Der Schmetterling wusste: Wer sich Zeit nimmt, verliert Zeit. Als Allererster kam er im Frühling aus dem Versteck, in dem er überwintert hatte. «Was ein Häkchen werden will, muss sich beizeiten krümmen! Wer Erfolg haben will, muss sich beizeiten strecken!», rief er, als er ins Sonnenlicht flog.
Voller Tatendrang sah er sich nach Projekten um. Weil er wusste, wie wichtig es war, dass man Entwicklung beschleunigte und Wege abkürzte, setzte er sich auf den Rand eines Vogelnests und erklärte den Vögeln, gleich nachdem sie geschlüpft waren, wie sie die Flügel zu bewegen hatten. Federn hin oder her. Er selbst flog ja auch ohne. Ebenfalls sehr hilfreich erschien er sich selbst, als er über das Zwitschern und Tirilieren referierte. Er selbst konnte es zwar nicht, hatte aber schon oft davon gehört. 

Wer sich Zeit nimmt, verliert Zeit: Auch die Paarung wurde schnell erledigt.

Vor einigen Tagen hatte der Schmetterling seine Eier gelegt. Jetzt ging er zur Stelle zurück. Er klatschte in die Flügel. Unhörbar zwar, aber voller Freude: Auf den Blättern tummelten sich bereits kleine Raupen. 
Der Schmetterling rief sie zusammen und sprach: «Ich will, dass meine Kinder zu Überfliegern werden. Höchste Zeit, dass wir mit gezielten Übungen anfangen. Ich lehre euch das Fliegen.» 

Eine der Raupen sagte: «Ich kann das nicht.»

Der Schmetterling nickte verständnisvoll: «Weil ich dir noch nicht gezeigt habe, wie es geht. Doch jetzt schaut her!» Der Schmetterling klappte seine Flügel auf und wieder zu. Zuerst langsam. Dann schneller. Bis es kein Klappen, sondern ein Flattern war. Er hob ab, flog eine Runde und kam zurück. «Jetzt ihr!», rief er in aufmunterndem Ton.

Etwas verlegen sassen die Raupen auf dem Blatt. «Wir haben keine Flügel!»

Der Schmetterling sah seine Geduld auf die Probe gestellt. «Nur wer früh übt, bringt es zu wahrer Meisterschaft… wie ich. Hopp-hopp! Das Leben ist ein Wettbewerb, den man gewinnen muss! Je früher ihr gezielt lernt, der Sonne entgegen zu fliegen, desto mehr stellt ihr die anderen in den Schatten. Alles geht, wenn man nicht nur herumspielt, sondern mit Ernsthaftigkeit lernt!» 

Die Raupen versuchten es, so gut es ging. Sie sahen ein, dass es ihr Fehler war, nicht an die eigenen Flügel zu glauben. Sie zuckten und verbogen sich. Ängstlich schauten sie links und rechts: Ob es den anderen wohl schon gelang?

Der Erfolg blieb aus. Keines der Kinder flog auf. Einige fielen hinunter. «Ich habe Hunger!», rief eine besonders aufmüpfige Raupe. «Ich will spielen!», eine andere.

Der Schmetterling war ratlos. «Bestimmt hätte ich früher mit dem Training meiner Kinder anfangen sollen. Ich hätte bereits die Eier instruieren müssen.»

Irgendwann gab der Schmetterling auf. Was für beide Seiten eine Erleichterung war. Die Raupen taten wieder, was wirklich gut für sie war: Sie frassen und tummelten sich. 

Und der Schmetterling fand im Herbst eine letzte, grosse Aufgabe: Er flog von Baum zu Baum und brachte nun auch den Blättern das Fliegen bei. Ab und zu, meist, wenn er eine Tanne zu unterrichten versuchte, dachte er an seine Kinder zurück. Was aus denen wohl geworden war, so ganz ohne Frühförderung?

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Zum Autor

Lorenz Pauli ist seit 2013 als freier Schriftsteller, Erzähler und – wie er sich selbst bezeichnet – Fantasie-Gärtner tätig. 25 Jahre lang arbeitete er als Kindergärtner und bildete sich auch in der Erwachsenenbildung fort. Seine Geschichten, Hörspiele und Liedertexte schreibt er für Kinder zwischen vier und elf Jahren und alle anderen, die sich daran erfreuen.



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