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Pro & Kontra

Nachhilfe

Braucht es Nachhilfe oder werden dabei nur die falschen Schülerinnen und Schüler gefördert? Uni-Professor Ludwig Haag und ETH-Professorin Elsbeth Stern vertreten dazu unterschiedliche Meinungen.

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Prof. Dr. Ludwig Haag

Pro

Prof. Dr. Ludwig Haag hat Psychologie und Alte Sprachen studiert und ­mehrere Jahre Latein unterrichtet. Vor seiner Pensionierung hatte er einen Lehrstuhl für Schulpädagogik an der Universität Bayreuth inne.

Die PISA-Erhebung 2012 zeigt, dass 34 Prozent der Schweizer Jugendlichen in der 8./9. Klasse bezahlten Nachhilfeunterricht erhielten (Hof & Wolter, 2014). Ein Forscherteam um Grunder (2013) fand bei einer repräsentativen Online-Befragung der 5. bis 9. Klassen in der deutschsprachigen Schweiz eine durchschnittliche Nachhilfequote von 17,2 Prozent. Diese Zahlen zeigen: Nachhilfe ist ein Faktum in der Bildungslandschaft.

Die Pro-Argumente führe ich anhand dreier Argumentationsstränge auf:

Erstens sprechen für Nachhilfe schülerbezogene Motive. Grund Nummer eins für Nachhilfe ist der Wunsch nach besseren Noten. Dabei wird Nachhilfe längst nicht nur von leistungsschwachen Lernenden nachgefragt, sie ist ein Mittel im Wettstreit um gute Noten. Die Frage nach der Effektivität fassen Hof und Wolter in folgendem Zitat zusammen, das nicht nur bezogen auf die Schweiz gilt: «Grundsätzlich deuten die Resultate auf sehr heterogene Effekte hin, was angesichts der Heterogenität der Angebote und deren Inanspruchnahme nicht überrascht» (S. 18). Doch interessant ist der Befund, den auch Grunder et al. bestätigen: In der subjektiven Einschätzung gibt die Mehrheit der Eltern sowie Lernenden an, dass sich die Leistungen in den Nachhilfefächern dank der Nachhilfe verbessern. Und diese subjektive Sichtweise lässt den Schluss zu, dass in der Folge Prüfungsängste abgebaut, die Lernmotivation gesteigert, das schulische Selbstkonzept gestärkt sowie Lernstrategien aufgebaut und optimiert werden können.

34 Prozent der Schweizer Jugendlichen in der 8./9. Klasse ­erhielten Nach­hilfeunterricht.
Prof. Dr. Ludwig Haag

Ein zweites Pro-Argument bezieht sich auf schulsystembezogene Gründe. Nachhilfe wird als Reaktion auf Mängel des Schulsystems gesehen. Hausaufgaben werden in das Elternhaus ausgelagert. Heute können Familien die Betreuung der Kinder zeitlich und inhaltlich nicht immer leisten. Ausserdem wird die bildungspolitische Forderung nach individueller Förderung gebetsmühlenartig wiederholt. Wenngleich der Fördergedanke bei den Lehrkräften angekommen ist, klafft in deren Wahrnehmung zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Bereich schulischer Förderung eine grosse Lücke. Weiterhin orientiert sich die Beurteilungspraxis in der Regel an einer sozialen Bezugsnorm, was die Produktion von «Versagern» zur logischen Folge hat. Einige Schülerinnen und Schüler müssen immer als «leistungsschwach» abqualifiziert werden. Diese sind es, die dann eben wiederum Nachhilfeunterricht «brauchen».

Ein drittes Pro-Argument berührt arbeitsmarktbezogene Gründe. Nachhilfe ist in Abhängigkeit von der Höhe der zu erwartenden Bildungsrenditen zu sehen. Da das selektive und kompetitive Bildungssystem den Zugang zu höherwertigen Berufen ermöglicht, gewinnen schulische Qualifikationen zunehmend an Bedeutung. Nachhilfe soll den Übergang zur nächsten Ausbildungsstätte (Sekundarschule, Gymnasium, Universität) sichern.

Zusammenfassend gibt es viele Argumente für die Nachhilfe. Dabei ist wichtig zu betonen, dass für den Nachhilfeunterricht das Gleiche gilt wie für den Regelunterricht: Unterricht ist nicht per se gut. In beiden Fällen kann die Qualität variieren.

Grunder, H.-U., Gross, N., Jäggi, A. & Kunz, M. (2013). Nachhilfe: Eine empirische Studie zum Nachhilfe­unterricht in der deutschsprachigen Schweiz. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Hof, S. & Wolter, S. C. (2014). Ausmass und Wirkung bezahlter Nachhilfe in der Schweiz. Aarau: SKBF, 20 S. DOI: 10.25656/01:15247

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Prof. Dr. Elsbeth Stern

Kontra

Prof. Dr. Elsbeth Stern ist seit Herbst 2006 ordentliche Professorin für empi­rische Lehr- und Lernforschung und ­Leiterin des Instituts für Verhaltens­wissenschaften an der ETH Zürich. Dort ist sie verantwortlich für den pädagogischen Teil der Ausbildung angehender Gymnasiallehrpersonen.

Warum sind viele Eltern bereit, gleich zweimal für die Schulbildung ihrer Kinder zu bezahlen? Einmal in Form von Steuern für das staatlich finanzierte Schulsystem und dann noch zusätzlich für Nachhilfeunterricht, wenn die Schule nicht das gewünschte Ergebnis in Form von Abschlüssen oder Übergangsempfehlungen liefert. Zwei Gründe sind denkbar: 1) Es gelingt der Schule nicht, die Fähigkeiten eines Kindes in Kompetenzen und Leistungen zu transformieren. Das Kind ist ein «Underachiever» oder «Minderleister». 2) Das Kind verfügt nicht über die für den Abschluss nötigen Fähigkeiten, aber Nachhilfe kann diese Defizite verschleiern – das Kind wird zum «Overachiever» gemacht.

Beides sind aus der Perspektive der Eltern legitime Gründe, und selbstverständlich kann man Nachhilfe in einem freien Land nicht verbieten. Aber in einem Land mit einem gut funktionierenden Bildungssystem sollte sie überflüssig sein. Oder andersherum: Das Ausmass an Nachhilfe ist ein negativer Indikator für die Schul- und Unterrichtsqualität eines Landes. Wenn überdurchschnittlich intelligente Kinder und Jugendliche schlechte Schulleistungen erbringen, kann das im Einzelfall persönliche Gründe haben. Tritt es hingegen gehäuft auf, muss man die Unterrichtsqualität hinterfragen. Keine Entschuldigung ist dabei mangelnde Motivation, da diese anders als Intelligenz kein stabiles Persönlichkeitsmerkmal ist, sondern durch interessante Angebote formbar ist. Transparente vergleichende Leistungsmessung kann Probleme aufzeigen und verpflichtende Weiterbildungsangebote sollten Lehrpersonen bei der Optimierung ihres Unterrichtes unterstützen.

In einem Land mit einem gut ­funktionierenden Bildungssystem sollte Nachhilfe überflüssig sein.
Prof. Dr. Elsbeth Stern

Wenn es umgekehrt gelingt, weniger kognitiv begabte Kinder in entscheidenden Momenten so zu pushen, dass sie nicht gerechtfertigte Abschlüsse oder Übergangsempfehlungen erhalten, ist das ebenfalls problematisch – teilweise für die dauerhaft überforderten Individuen und auf jeden Fall für die Gesellschaft. Letzteres ist immer der Fall, wenn Menschen in berufliche Positionen kommen, die sie intellektuell überfordern. Wie kann es dazu kommen? Man muss sich verdeutlichen, dass trotz aller Fortschritte in der Vermessung menschlicher Leistung diese niemals perfekt gelingen kann. Egal ob es sich um Intelligenztests, um standardisierte Leistungstests oder um Noten handelt – es wird immer einen Anteil von Menschen geben, die unter- oder überschätzt werden. Letzteres gelingt durch gezieltes Üben von testnahen Aufgaben, womit aber der eigentliche Zweck der Leistungsmessung – nämlich die erfolgreiche Bewältigung noch unbekannter zukünftiger Anforderungen vorherzusagen – ausgehebelt wird. Nachhilfeunterricht untergräbt also auch den Anspruch eines modernen Bildungssystems, jedem jungen Menschen eine Ausbildung zu ermöglichen, die seinen Fähigkeiten und Talenten entspricht und die gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht. Im Einzelfall kann temporäre Nachhilfe sinnvoll sein – zum Beispiel bei Krankheit oder wenn das Kind einen Schicksalsschlag erlebt hat. Für solche Fälle sollte aber unabhängig von der wirtschaftlichen Situation der Familie Unterstützung zur Verfügung stehen. Wenn Nachhilfe jedoch zur Selbstverständlichkeit wird, läuft etwas schief.


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