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Kolumne

Versöhnung

Unsere Kolumnistin Marah Rikli schreibt über ihr Leben mit einem beeinträchtigten Kind.

Als ich zehn Jahre nach der Geburt meines Sohnes wieder schwanger wurde, fühlte ich mich gewappnet: für schlaflose Nächte, Babyblues, das Stillen. Und ich dachte, beim zweiten Kind würde mich so schnell kein Kommentar meiner Mitmenschen aus der Ruhe bringen. Je klarer jedoch wurde, wie sich meine Tochter (nicht) entwickelte, desto weniger gelang es mir, mich gegenüber (gut gemeinten) Ratschlägen abzugrenzen.

Da war diese Frau auf dem Spielplatz, die mir immer wieder sagte, ich müsse meiner Tochter einfach mehr zutrauen, dann komme das schon noch mit dem Reden. Oder die Nachbarin, die fragte, ob ich denn in der Schwangerschaft geraucht oder getrunken hätte und mein Kind deswegen «geschädigt» sei. Oder die Bekannte, die anbot, schlechte Energien aus dem früheren Leben meiner Tochter auszupendeln, damit sie sich «normaler» entwickle.

Zur Autorin

Marah Rikli ist Buchhändlerin, Autorin und Journalistin. Sie hat einen Sohn (16 Jahre) sowie eine Tochter (6 Jahre), die mit einer Entwicklungsstörung auf die Welt kam. Hier schreibt sie über ihr Leben mit einem beeinträchtigten Kind.

Zuerst war ich einfach nur schockiert. Dann traurig. Irgendwann wurde ich wütend und streitlustig. Zum Beispiel, als sich ein Herr im Bus über uns empörte: «So ein grosses Kind braucht doch keinen Buggy mehr, das ist schlecht für die Beine!» Und ich laut entgegnete: «Sie. Hat. Eine. Behinderung.» Oder als eine ältere Dame im Tram meiner nuckelnden Tochter zuredete: «Du bist aber gar kein schönes grosses Mädchen mit diesem Schnuller im Mund» – und ich parierte: «Es geht im Leben auch nicht alles um Schönheit, verehrte Dame!» Mittlerweile bin ich gelassener geworden. Ich lerne, diesen Menschen anders zu begegnen und trotzdem für meine Tochter einzustehen. Meine Tochter hilft mir dabei, strahlt sie doch den meisten von ihnen völlig unbeeindruckt ihr Lachen entgegen.

In unserer Gesellschaft gilt es als erstrebenswert, einem Ideal zu entsprechen. Einer Norm, einem Durchschnitt anzugehören – auch wenn viele unter diesem Druck leiden, vielleicht gerade diejenigen besonders, die am lautesten kritisieren. Ich versuche, in solchen Situationen gefasst zu bleiben, statt wütend zu werden. Ich erkläre und erzähle von meiner Tochter und davon, was sie alles kann: zum Beispiel in Gebärden kommunizieren. Dann reagieren die meisten Menschen anders als erwartet – die einen werden offener und neugierig. Andere entschuldigen sich und erzählen plötzlich von ihren eigenen Schicksalsschlägen oder ihren eigenen vermeintlichen Schwächen. Oftmals wird die Situation versöhnlich. Manchmal wird die Begegnung gar zu einer Bereicherung.

Wie letztens, als meine Tochter an der Migros-Kasse wegen den lauten Pieps-Geräuschen hysterisch schrie und sich die Ohren zuhielt und wir ungeduldige Blicke vom Mann neben uns ernteten. «Das ist gerade sehr stressig für sie . . .», rief ich ihm zu und fragte: «Wissen Sie, was autistisches Verhalten ist?» Er schaute uns an, nickte und fing an, meine Einkäufe einzupacken. Dann lächelte er und sagte: «Ach, wir sind doch alle etwas neben der Spur im Moment. Wissen Sie, manchmal würde ich auch gerne losschreien.» Schliesslich hob er meinen vollgepackten Einkaufssack hoch und fragte, ob er uns diesen noch nach draussen tragen soll.


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