- Aussensicht
Kolumne
Sprache ohne Grenzen
Wird die achtjährige Tochter, die mit einer Entwicklungsstörung auf die Welt kam, jemals lesen und schreiben lernen? Und was, wenn nicht? Das fragt sich Marah Rikli in ihrer neuen Kolumne.
- Veröffentlicht:16.01.2023
- Autorin:Marah Rikli
- Bild:Derek Roczen
Als Ronja* noch klein war, stellte ich mir manchmal vor, wie ich später mit ihr über Bücher spreche. Schon ihrem älteren Bruder hatte ich viel vorgelesen und von klein auf Bücher gekauft. Dennoch hatte er bald andere Hobbys. Vielleicht würde ja seine Schwester eine Leseratte? In Gedanken schenkte ich ihr zu ihrem neunten Geburtstag bereits «Ronja Räubertochter», das Lieblingsbuch aus meiner Kindheit.
Ronja liebt Bücher heute tatsächlich. Ihr Favorit ist aber nicht ein Roman von Astrid Lindgren, sondern ein Bilderbuch für Kleinkinder über das Zähneputzen und Duschen. Andere Bücher, die sie anschauen möchte, haben oftmals Klappen, geben Töne von sich oder sind Fühlbücher. Buchstaben hingegen interessieren sie bis jetzt nur wenig – ob sie je Lesen und Schreiben lernt, lässt sich noch nicht abschätzen. Genauso wenig, ob sie als Erwachsene fliessend sprechen wird. Hin und wieder frage ich mich, was es für Ronjas Zukunft heisst, falls sie die Laut- und Schriftsprache nie erwirbt.
«Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt», sagte der Philosoph Ludwig Wittgenstein. Er meinte damit wohl just das, was mich in Bezug auf Ronjas Sprachvermögen beschäftigt: dass die gesprochene und geschriebene Sprache Menschen verbindet und dass sie massgebend ist, wie andere Menschen uns einschätzen. Zum Beispiel, ob sie uns zuhören, uns intellektuell ernst nehmen, uns integrieren oder eben ausgrenzen. Und ob sie uns diejenigen Zugänge gewähren, die wir anstreben. Etwa zu Ausbildungen, Gemeinschaften oder Debatten.
Wird man meine Tochter in jedem Fall ernst nehmen? Ihr Türen für ein Berufsleben öffnen, wie sie es sich wünscht? Oder wird sie eine gesellschaftliche Barriere spüren, Ausgrenzung erfahren? Viele Menschen, die keine Laut- und Schriftsprache haben, erleben Sprachbarrieren und Diskriminierung.
Damit sich das ändert, braucht es vermutlich noch weit mehr Verständnis davon, wie vielfältig Sprache eigentlich sein kann. Und die Bereitschaft, Vorurteile abzubauen. Dabei können die Erwachsenen von den Kindern lernen. Diese fragen mich nämlich oft sehr direkt, ob Ronja denn nicht sprechen kann. Ich erkläre dann jeweils, dass sie schon sprechen könne, einfach anders als wir. Zum Beispiel in Gebärden. Die Kinder reagieren fast immer neugierig und wollen sofort einige Gebärden von Ronja lernen. Meine Tochter wiederum liebt es, anderen etwas beizubringen.
Diese Kinder sehen Ronja als gleichwertigen Menschen an und wollen sie verstehen. Sie interessieren sich, wie sie in Gebärden, mit Piktogrammen, ihrem Kommunikationsgerät, einem sogenannten Talker, und mit vollem Einsatz ihrer Körpersprache, ihrer Gestik und Mimik, spricht. Und sie bekommen praktisch jedes Mal mit, was Ronja sagen will.
Ich wünsche mir weiterhin, dass meine Tochter eines Tages «Ronja Räubertochter» lesen kann, weil mich dieses Buch als Kind geprägt hat. Sollte sie das nicht können, werden wir es uns einfach anhören, den Film oder das Theaterstück anschauen oder ich werde es ihr vorlesen. Es gibt so viele Möglichkeiten, Sprache zu erleben.
Zur Autorin
Marah Rikli ist Buchhändlerin, Autorin und Journalistin. Sie hat einen Sohn (18 Jahre) sowie eine Tochter (8 Jahre), die mit einer Entwicklungsstörung auf die Welt kam. Hier schreibt sie über ihr Leben mit einem Kind mit Behinderung.
* Ronja heisst mit richtigem Namen anders.
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