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Pro & Kontra

Sind Schulnoten noch sinnvoll?

Über diese Frage wird bereits seit einigen Jahren rege diskutiert. Die Meinungen dazu sind vielfältig und gehen teilweise weit auseinander. Rahel Tschopp und Jürgen Oelkers teilen ihre unterschiedlichen Standpunkte mit uns.

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Prof. Dr. Jürgen Oelkers

PRO

Prof. Dr. Jürgen Oelkers ist Erziehungswissenschaftler und emeritierter Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich. Er ist Mitherausgeber der «Zeitschrift für Pädagogik » und Autor diverser Bücher zur Reformpädagogik und Schulreform.

Noten basieren auf der Beurteilung der Leistungen durch die Lehrperson in ein und derselben Lerngruppe. Diese Beschreibungsform hat sich bewährt, sie ist ökonomisch und vergleichsweise leicht zu handhaben. Zudem zeigt die Forschung, dass die Urteile der Lehrpersonen im Blick auf ihre Klasse im Allgemeinen verlässlich sind, auch wenn Verzerrungen vorkommen.

Kritik an den Ziffernnoten gibt es in der Schulwelt seit mehr als hundert Jahren, ohne dass die Noten je abgeschafft worden wären. Trotz einer Vielzahl von scheinbaren oder tatsächlichen Alternativen ist die Notenskala das bei Weitem gebräuchlichste Instrument der Leistungsbeurteilung.

Eine Bewertung ist erst dann willkürlich, wenn einzelne Schülerinnen und Schüler gegenüber anderen bevorzugt werden, die Bewertung ohne Kriterien erfolgt oder unfaire Massstäbe angewendet werden. Ein zentraler Grundsatz für die Notengebung besagt nämlich, dass nur geprüft werden darf, was auch unterrichtet wurde und gelernt werden konnte. Wenn dieser Grundsatz verletzt wird, warum auch immer, so ist das ungerecht. Eine Beurteilung kann in diesem Falle nur willkürlich sein. Unfair ist es auch, zwar mit einer Notenskala zu arbeiten, jedoch nur eine Notenstufe zu gebrauchen. Die sogenannten «Einheitsnoten» widersprechen den tatsächlichen Leistungsunterschieden und stellen nur eine Scheingerechtigkeit her.

Das traditionelle Verfahren für die Notengebung ist nicht so schlecht, wie die Kritik häufig und gerne annimmt.
Prof. Dr. Jürgen Oelkers, Erziehungswissenschaftler und Professor für Allgemeine Pädagogik

Wenn dagegen ein Schüler oder eine Schülerin schlecht beurteilt wurde und nicht die Note erreicht hat, die er oder sie erreichen wollte, dann ist das nicht ungerecht – sofern die Kriterien der Benotung klar waren, die Notengebung transparent erfolgte und keine Bevorzugung oder Benachteiligung erkennbar ist. Nur so bleibt das notwendige Vertrauen in die Fairness erhalten. 

Das traditionelle Verfahren für die Notengebung ist nicht so schlecht, wie die Kritik häufig und gerne annimmt. Noten erfassen Leistungen im Blick auf Aufgabenstellungen, die von den Lehrkräften bewertet werden. Endnoten – nach einem bestimmten Unterrichtsabschnitt, meist am Ende eines Schulhalbjahres – werden gebildet, indem verschiedene Einzelnoten addiert und ein (gewichteter) Durchschnitt errechnet wird. Dieses Verfahren ist im Laufe der Zeit erweitert und ergänzt worden. Das Arbeitsverhalten der Lernenden wird bewertet, auch der gewählte Lösungsweg für die Bearbeitung der Aufgaben findet Berücksichtigung, Korrekturen von Leistungen fliessen mit ein und die Beurteilung durch die Lernenden selbst (sogenanntes Peer-Feedback) nimmt inzwischen einen erheblichen Platz ein. Schlussendlich zählen auch Eltern- sowie Coachinggespräche mit den jeweiligen Schülerinnen und Schülern dazu.

Am Ende sind die Lehrpersonen verantwortlich und handeln nach bestem Wissen und Gewissen – also vermutlich in den wenigsten Fällen tatsächlich willkürlich im genannten Sinne. Auf der anderen Seite stehen die Schulen vermehrt unter Druck, die Praxis der Notengebung rekursfest zu gestalten, falls es tatsächlich zu Einsprüchen von Eltern kommen sollte. Das erhöht zusätzlich die Notwendigkeit, mit klaren Kriterien zu arbeiten und die Notengebung – und damit auch den Weg zur Note – schlüssig begründen zu können.

Mein Fazit: Jede Bewertung hat ihre Grenzen. Noten haben den Vorteil, dass sie leicht zu kommunizieren sind und keinen übermässigen Aufwand bescheren. Sie passen ins Arbeitsfeld der Schule, gelten als bewährt und werden nicht zuletzt als Beschreibungsform auch ausserhalb der Schule breit angewendet.

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Rahel Tschopp

KONTRA

Rahel Tschopp ist ausgebildete Primarlehrerin, Schulische Heilpädagogin und Schulleiterin. Seit mehr als zwanzig Jahren arbeitet sie in der Weiterbildung von Lehrpersonen und hat eine NPO (CompiSternli) sowie ein eigenes Unternehmen (Denkreise GmbH) gegründet.

Unsere Kinder werden in einigen Jahren Berufe ausüben, die es heute noch gar nicht gibt. Die gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen haben ein horrendes Tempo aufgenommen. Was sich hartnäckig in der Schule hält: die Noten. Sind wir unseren Kindern, ihren Eltern und auch der Wirtschaft nicht zeitgemässere Feedbacks schuldig?

Was bedeutet zum Beispiel meine damalige Note 6 in der mündlichen Maturprüfung im Fach Deutsch? Nein, ich konnte mich nicht eloquent ausdrücken. Nein, ich hatte keine hochstehende Literatur gewählt. Aber ja: Es war das erste Mal, dass ich in meiner Gymnasiumszeit länger als dreissig Sekunden am Stück gesprochen hatte. Ich war damals äusserst scheu. Mein Lehrer war bei dieser Prüfung schlicht fasziniert von meiner thematischen Leidenschaft, die ich zum ersten Mal an den Tag legte.

Wir wissen es längst: Noten sind kaum objektiv, sie variieren von Lehrperson zu Lehrperson. Noten sagen vor allem etwas aus: wie anpassungsfähig eine lernende Person ist. Noten reduzieren eine komplexe Leistung auf eine Ziffer. Diese Währung ist in die DNA der Gesellschaft gebrannt, sie ist Teil der «Grammatik der Schule». Will man der grossen Heterogenität der Kinder und Jugendlichen gerecht werden, kommt man nicht umhin, an dieser Grammatik zu kratzen. Welche Note erhält ein Kind, das beim Eintritt in den Kindergarten noch nicht zählen konnte und den Zehnerübergang erst in der dritten Klasse beherrscht? Welche Note erhält ein Kind, das im Kindergarten bereits ganze Sätze lesen konnte – und in der dritten Klasse nicht mehr schreiben will, weil es ihm zu langweilig wurde?

Noten sagen vor allem etwas aus: wie anpassungs-fähig eine lernende Person ist.
Rahel Tschopp, Schulentwicklerin

Unsere Notengebung ist ein Relikt der Gleichschaltung. Jede Heilpädagogin und jeder Heilpädagoge kennt diesen emotionellen Spagat: Einerseits wird das Kind individuell gefördert, anderseits erhält es eine ungenügende Note. Die Lehrperson für die Begabungsförderung befindet sich im gleichen Dilemma: Sie erlebt, welches Potenzial ein Kind hätte, das im Klassenverband aber nur rudimentär unterstützt werden kann. Die Notengebung wird der Kompetenzorientierung und dem Lehrplan 21 nicht gerecht. Der Lehrplan 21 sieht vor, dass sich Kinder für die Erarbeitung von Kompetenzen Zeit nehmen können. Die übliche Praxis der Notengebung torpediert dies gänzlich.

Das Abschaffen der Noten hat nichts mit der Abkehr von Leistungsorientierung zu tun. Im Gegenteil: Es hat mit einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Lernvorgang zu tun. Die Komplexität des Lernens darf nicht mit einer einfachen Ziffer abgegolten werden. Jedes Kind in der Schweizer Volksschule muss das Anrecht auf regelmässige Feedbackgespräche haben. Und jede Lehrperson respektive Schule muss über diese nötigen Zeitgefässe verfügen. Zudem muss ein echtes Anschlusslernen das Grundrecht eines jeden Kindes in der Schweiz sein.

In wenigen Jahren werden leistungsstarke adaptive Lernsysteme auch die Schweiz erreicht haben. Damit wird die Individualisierung, ja sogar das Personalisieren des Lernens neuen Auftrieb erhalten. Spätestens dann werden Noten obsolet. Ich wünsche mir, dass wir nicht an Altem festhalten, nur weil es sich in den letzten hundert Jahren bewährt hat. Wenden wir uns doch lieber mit ganzer Energie der Frage zu: Wie können wir der riesigen Heterogenität unserer Kinder gerechter werden, sodass die Schule für alle Beteiligten zu einem angenehmen und zeitgerechten Lern- und Arbeitsort wird?


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