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Kindergartenstart im Februar?

Heute können Kinder in der Schweiz jeweils nur nach den Sommer-ferien in den Kindergarten eintreten. Sollte man diesen Eintritt ­flexibler gestalten? Kinderarzt Oskar Jenni spricht sich klar für eine Flexibilisierung aus, während Carl Bossard, Gründungsrektor der PH Zug, argumentiert, dass so zu viel Unruhe entsteht.

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Kinderarzt Oskar Jenni

Pro

Oskar Jenni ist Leiter der Abteilung ­Entwicklungspädiatrie am Kinder-spital Zürich und Leiter der «Akademie für das Kind. ­Giedion Risch».

Der Eintritt in den Kindergarten ist ein grosser Entwicklungsmeilenstein für jedes Kind: Er bringt eine umfassende Erweiterung der kindlichen Erfahrungswelt mit sich. Das Kind verbringt mehr Zeit ausserhalb der Familie als je zuvor und sein Alltag ist von nun an geprägt von vielen neuen Regeln und Ritualen.

Wann ein Kind für diesen wichtigen Entwicklungsschritt bereit ist und zu welchem Zeitpunkt der Kindergarteneintritt erfolgen soll, ist Gegenstand von zum Teil hitzigen fachlichen und politischen Debatten. Besonders akzentuiert ist die Diskussion, seitdem die Kinder immer jünger in den Kindergarten eingeschult werden und dafür bisweilen noch als nicht «reif» genug gelten.

Aber wann ist ein Kind für den Kindergarten wirklich reif? Es gibt aus meiner Sicht nur wenige Kriterien für die «Kindergartenreife», und diese sollten vom Kind aus gedacht werden.

So muss es beispielsweise in der Lage sein, sich eine Zeit lang von den Eltern trennen zu können; es sollte sich dabei ohne die Anwesenheit der bisher engsten Bezugspersonen wohlfühlen. Bis zum Alter von vier Jahren haben die meisten Kinder eine sichere Bindung zu ihren Bezugspersonen aufgebaut und zunehmend Interesse daran, mit ihrem Umfeld ohne die Begleitung ihrer Eltern zu interagieren. Es gibt aber durchaus Kinder, die in diesem Alter noch nicht dazu bereit sind. In diesem Zusammenhang gilt es zu berücksichtigen, dass gerade in den ersten Lebensjahren die kindliche Entwicklung ausserordentlich dynamisch ist: Nicht selten zeigen Kinder innert kurzer Zeit erstaunliche Sprünge in ihrer Entwicklung. So kann es durchaus sein, dass ein Kind im Sommer noch unreif, verspielt, wenig selbstständig und auf die elterliche Anwesenheit angewiesen, aber bereits im darauffolgenden Winter viel reifer ist.

Aus diesem Grund befürworte ich einen flexiblen Eintritt in den Kindergarten zu Beginn des zweiten Halbjahres oder sogar einen noch weniger rigiden Eintrittszeitpunkt, denn gerade in der frühen Kindheit können nur wenige Monate einen grossen Unterschied hinsichtlich des Entwicklungsstandes eines Kindes ausmachen. Manche Länder anerkennen diese Tatsache: In Neuseeland zum Beispiel treten die Kinder an ihrem Geburtstag in den Kindergarten ein – und nicht zu einem durch die Schule vorgegebenen Zeitpunkt. Der Kindergarten sollte sich aus meiner Sicht an das einzelne Kind anpassen und nicht umgekehrt, denn: Wenn sich die Umgebung nicht auf die individuellen Bedürfnisse und Entwicklungseigenheiten eines Kindes einstellt, es also zu einem Misfit zwischen Kind und Umwelt kommt, dann fühlt sich das Kind nicht wohl, kann keine Selbstwirksamkeit erfahren und entwickelt sich nicht angemessen.

So kann es durchaus sein, dass ein Kind im Sommer noch auf die elterliche Anwesenheit angewiesen, aber ­bereits im Winter viel reifer ist.
Oskar Jenni, Leiter der Abteilung ­Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich und Leiter der «Akademie für das Kind. ­Giedion Risch».

Tatsächlich erleben 10 bis 20 Prozent aller Kinder den Kindergarteneintritt als grosse Herausforderung, die zu gravierenden Nachteilen bis in das spätere Schulalter führen kann. Die Flexibilisierung des Eintrittes in das Bildungssystem kann einer solchen Entwicklung entgegenwirken.

Eine Flexibilisierung kann aber nicht nur gesunde Kinder und ihre Eltern entlasten und den Druck auf Familien reduzieren, sondern ist auch für Kinder mit einer Entwicklungsstörung oder mit Verhaltensauffälligkeiten sinnvoll. So bergen Rückstellungen für ein ganzes Jahr das Risiko, dass gerade diese Kinder noch länger eine unzureichende Förderung erhalten. Daten in verschiedenen Kantonen zeigen, dass solche Rückstellungen in den letzten Jahren zugenommen haben. Das ist eine sehr unglückliche Entwicklung, weil besonders Kinder mit Entwicklungsauffälligkeiten von einem strukturierten Bildungssetting enorm profitieren können.

Ich bin mir sehr bewusst, dass eine Flexibilisierung des Kindergarteneintrittes für die Schuladministration und die Lehrpersonen einen erheblichen Mehraufwand bedeutet. Dass sich dieser jedoch auf lange Sicht für die Kinder und auch für die Gesellschaft lohnen wird, davon bin ich zutiefst überzeugt.

Buchtipp: Oskar Jenni. Die kindliche Entwicklung verstehen. Springer Verlag, 2021. Weitere Infos: fuerdaskind.ch/akademie/kindliche-entwicklung-verstehen

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Carl Bossard, Gründungsrektor der PH Zug

Kontra

Carl Bossard hat Erziehungswissenschaften und Geschichte studiert und am Lehrer­seminar St. Michael Zug unterrichtet. Er ist Gründungsrektor der PH Zug.

Professor Oskar Jenni denkt vom einzelnen Kind her; er argumentiert aus der Perspektive des Individuums. Doch diese Optik blendet das Systemische, den Gesamtkontext Schule, aus. Und dem System Schule wurde in den letzten Jahren viel aufgebürdet. Sehr viel Zusätzliches. «Die Unruhe muss aus den Schulen raus!», fordert darum der renommierte Neurobiologe Gerhard Roth. Schule und Unterricht laborierten und litten an einer künstlich konstruierten Komplexität. Die inhaltliche und organisatorische Hektik stünde einem guten Lernen, individuell wie sozial, oft im Wege.

Die Vielfalt als Folge des rasanten gesellschaftlichen Wandels ist gross. Die Realität in den Kindergärten zeigt es: Die Heterogenität ist gestiegen, die Bandbreite gewachsen, das Zusammenwachsen zur Gruppe schwieriger geworden. In jedem Klassenverband treffen wir auf Kinder mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen, beispielsweise fremdsprachige Kinder, die noch kaum ein Wort Deutsch sprechen, oder solche mit Hyperaktivität.

Es braucht darum heute, so lehrt es die Erfahrung, vielfach deutlich mehr Zeit, bis sich die Gruppe gefunden hat und sich ein Gemeinschaftsgefühl einstellt. Beides aber, die Stabilität im Soziogramm wie die Lernatmosphäre im Unterrichtsraum, ist für die Kinder und das gemeinsame Unterwegs-Sein wichtig. Es braucht beides, damit sich die jungen Menschen individuell und als Gemeinschaft entwickeln können. Und das erfordert seine Zeit.

Das geht leicht vergessen. Aus Sicht mancher Bildungsplaner ist alles machbar, alles organisierbar, alles eine Frage der Effizienz und des Willens. In diese Logik gehört auch der Halbjahreseintritt. Doch im subtilen Beziehungsgeflecht des Kindergartens lässt sich nicht alles erzwingen; Unterricht ist kein Produktionsbetrieb. Zudem kennen Bildung und Erziehung das «Gesetz der ungewollten Nebenwirkungen». Formuliert hat es der Pädagoge und Philosoph Eduard Spranger.

Zu viel Wechsel führt zu Unruhe und Unsicherheit. Gerade kleine Kinder, und vor allem sensible, brauchen konstante Beziehungen.
Carl Bossard hat Erziehungswissenschaften und Geschichte studiert und am Lehrer­seminar St. Michael Zug unterrichtet. Er ist Gründungsrektor der PH Zug.

Das Prinzip spielt auch hier. Zu viel Wechsel führt zu Unruhe und Unsicherheit. Gerade kleine Kinder, und vor allem sensible, brauchen konstante Beziehungen – dies in vielerlei Hinsicht.

Wenn nun jedes halbe Jahr neue Kinder dazukommen, bringt dieser Dauerwechsel zusätzliche Unruhe; er stört die Stabilität und die Harmonie der Gruppe. Vielerorts haben wir bereits jetzt zwei Jahrgangsklassen in den Kindergärten. Darum sind beispielsweise die älteren Kinder an zwei Halbtagen unter sich – und die jüngeren ebenso. Wie soll da halbjährlich zusätzlich integriert werden? Durchbrochen würden die förderliche Konstanz und die sozialisierende Kohärenz der Gruppe, beides oft nur mit viel Geduld erarbeitet. Die Heterogenität und das notwendige pädagogische Integrieren in ein Ganzes sind auch ohne diese zusätzliche Rotation eine anspruchsvolle Aufgabe.

Die Idee des halbjährlichen Kindergarteneintrittes, auf den ersten Moment vielleicht bestechend, wird in der Praxis auf Schwierigkeiten stossen. Die zusätzliche Unruhe durch den Wechsel mitten im Jahr lässt sich nicht einfach negieren. Sie ist ein Fakt und hat unter anderem Folgen für die Gruppendynamik. Darum wäre es besser, den Kindergartenbeginn nicht für alle mit vier Jahren zu erzwingen, sondern ihn auch mit fünf zu ermöglichen, wie das in verschiedenen Kantonen der Fall ist. Dann sieht man nach einem Jahr, ob das Kind schulreif ist oder nicht. Allenfalls besucht es den Kindergarten ein zweites Jahr. Das wäre eine Rückkehr zur früheren Flexibilität. Viele Kinder sind eben mit sechs noch nicht schulreif. Das hat man beim HarmoS-Entscheid nicht beachten und mitbedenken wollen. Der halbjährliche Eintritt im Februar ist ein pädagogisch fragwürdiger Korrekturversuch.

Gedanken zur Bildung finden sich auf der Website von Carl Bossard: carlbossard.ch


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