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Kolumne

Willkommen, geliebt und glücklich

Unsere neue Kolumnistin Marah Rikli schreibt über das Leben mit einem Kind mit Behinderung.

«Bin ich schuld?», fragte ich vor etwas weniger als fünf Jahren die Pädiaterin am Kinderspital, als klar wurde: Meine Tochter entwickelt sich nicht wie andere Kinder in ihrem Alter. «Liegt es vielleicht daran, dass ich zu viel gearbeitet habe in der Schwangerschaft?» «Niemand ist schuld, Frau Rikli, auch Sie nicht», antwortete die Ärztin in diesem kleinen grauen Zimmer. Meine Tochter, damals 22 Monate alt, krabbelte währenddessen auf dem Boden herum. «Sie sollten sich keine Vorwürfe machen und damit Energie verschwenden. Es wird Sie genug Energie kosten, Ihr Kind zu betreuen.» Ich hörte nur widerwillig zu. «Ihr Kind wird ein Leben lang Ihre Unterstützung brauchen, darauf würde ich mich einstellen.»

Zur Autorin

Marah Rikli ist Buchhändlerin, Autorin und Journalistin. Sie hat einen Sohn (16 Jahre) sowie eine Tochter (6 Jahre), die mit einer Entwicklungsstörung auf die Welt kam. Hier schreibt sie über ihr Leben mit einem beeinträchtigten Kind.

Ob es ein Junge werde oder ein Mädchen, das sei uns egal, hatte ich mit meinem ­dicken Babybauch am grossen Esstisch meiner Schwiegereltern zwei Jahre zuvor gesagt: «Hauptsache, es ist gesund, Hauptsache, es hat keine Behinderung.» Der Ultraschall unauffällig, die Nackenfalte normal, die Grösse des Ungeborenen im Durchschnitt. Niemand vermutete, mit diesem Kind könne etwas nicht in Ordnung sein. Die Geburt verlief problemlos und ich zählte: fünf Finger, fünf Zehen und noch mal fünf Finger und fünf Zehen. Der Apgar-Check war unauffällig, der Umfang des Kopfes mit den wenigen roten Haaren normal.

Zuhause lagen wir die ersten vier Wochen nur im Bett, draussen brannte die Sonne, mein Sohn ass zu viel Süsses, sah zu viel fern, weil ich so müde war. Weil meine Tochter schrie, sobald ich sie hinlegte, weil sie keine zwei Stunden am Stück schlief, nicht richtig trank, sich verschluckte und würgte. Nach einem halben Jahr drehte sie sich noch nicht von der einen Seite auf die andere. Sie hatte kein Interesse, einen Löffel zu greifen oder nach der Brille ihres Vaters. Nach einem Jahr wollte sie immer noch nicht essen, nur den Schoppen trinken wie ein kleines Baby, sie sah noch immer aus wie halbjährig. Als sie 18 Monate war, riet der Kinderarzt dringend zu Abklärungen.

Unsere Tochter hat eine Entwicklungsstörung und vermutlich einen so seltenen Gendefekt, dass man ihn wohl nie finden wird. Die Genetikerin, der Neurologe, die Lehrpersonen, die Ergotherapeutin, die Heilpädagogin, die Logopädin und auch der Naturarzt wissen nicht, warum unsere Tochter «anders» ist als ihre Altersgenossinnen. Den Abklärungsberichten zufolge ist sie vor allem eines: beeinträchtigt. Für mich jedoch ist sie meine Tochter. Das Mädchen mit den schönsten Augen und dem liebsten Lachen, das ich kenne, ein humorvolles, selbstbewusstes Kind, Teil unserer Patchworkfamilie, Teil unserer grossen Familiensiedlung und Teil ihrer Klasse: Seit fast zwei Jahren besucht sie den heilpädagogischen Kindergarten.

Am Esstisch meiner Schwiegereltern würde ich es deshalb heute anders sagen: «Ob Mädchen oder Junge, ob gesund, behindert, krank oder totaler Durchschnitt: Das ist unser Kind. Und es soll willkommen, geliebt und glücklich sein.»


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