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Einschulen mit vier?

Sollen Kinder flächendeckend mit dem vierten Geburtstag in die Basisstufe oder den Kindergarten eintreten? Ein Vater im Kanton Bern und eine Heilpädagogin im Kanton Zürich kommen zu unterschiedlichen Schlüssen.

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Markus Tschannen, Vater zweier Kinder

Pro

Markus Tschannen hat zwei Kinder mit den Spitznamen Brecht und Beebers und lebt mit seiner Familie im Kanton Bern. Neben der Arbeit als Kommunikationsberater schreibt er unter anderem für den Blog einer Tageszeitung und für eine Zeitschrift.

Nicht alle Kinder gehen in die Kita. Und nicht alle Kinder leben in einer Siedlung, in deren Innenhof ständig pädagogisch wertvolle Spielgeräte sowie pädagogisch ebenso wertvolle Gspänli bereitstehen. Unserem Brecht fehlte das: Er wurde von seinen Eltern betreut, blieb lange geschwisterlos und die viel befahrene Kantonsstrasse trennte ihn von den wenigen Nachbarskindern. So musste er imaginäre Freunde erfinden, um genug Sozialkontakte zu haben.

Mit vier Jahren war eine Veränderung nötig. Mehr Kinder, mehr Struktur, ein Leben ausserhalb des Zuhauses. Was für eine Umstellung. Aber der Brecht gewöhnte sich an die Basisstufe und sie tat ihm gut. Klar hätten wir ihn auch in zwölf Vereine schicken können. Aber der Punkt ist: Kinder wachsen mit unterschiedlichen Möglichkeiten auf. Die Schule bringt gewisse Mindeststandards in ihr Leben – Standards, die mit vier Jahren sinnvoll sind. Dazu gehören fachlich angeleitetes Lernen und die soziale Erfahrung eines Klassenverbandes, aber längst nicht nur. Das ganze begleitende Angebot aus Abklärungen und Förderunterricht ist für viele Kinder ebenso wichtig: Logopädie, Psychomotorik, Deutsch als Zweitsprache, integrative Förderung, Schulsozialarbeit, Reihenuntersuchungen, je nach Bedarf psychologische Abklärungen. Manche nennen das naserümpfend «Maschinerie» oder «Problemsuche». Ich empfand es immer als positiv, dass sich Fachpersonen um das Wohl unseres Kindes kümmern. Und ja, wir durften von einigen Abklärungen und Begleitungen durch Speziallehrkräfte profitieren. Für fremdsprachige Kinder wiederum ist der tägliche Zugang zu einer Landessprache Gold wert.

Natürlich benötigen nicht alle Vierjährigen diese Angebote, sie sind in der Kita oder der Siedlung vielleicht ganz glücklich. Aber auch dann spricht nichts dagegen, in die Schule zu gehen. Manche sagen: «Kinder sollen Kinder sein und spielen dürfen» und «Der Ernst des Lebens beginnt noch früh genug». Kommen solche Sätze von einer falschen Vorstellung, wie Schule mit vier in der Praxis aussieht? Es ist ja nicht so, dass derselbe Unterricht, den wir Eltern früher bei der obligatorischen Einschulung mit sieben hatten, jetzt einfach drei Jahre früher beginnt.

Die Einschulung ist das Tor zu neuen Freundschaften, neuen Erlebnissen, Spass und Möglichkeiten.
Markus Tschannen, Vater zweier Kinder

«Jösses, die haben mit vier ein Mathebuch und Übungshefte.» Ja, haben sie. Das mag abschrecken – bis man sich die Unterlagen anschaut. Die Kinder malen Muster rein oder sollen Gegenstände im Klassenraum zählen. Schule für Vierjährige ist spielerisch, je nach System oft in altersgemischten Gruppen, regelmässig draussen. An einem Tag kommt die Polizistin vorbei und erklärt die Verkehrsregeln, die Woche darauf zeigt der Revierförster, woran man die verschiedenen Bäume erkennt. Freie Tätigkeit, Turnen, die Schulbibliothek runden das Angebot ab.

Eine altersgerechte Schule ist keine düstere Vorhölle des Gehorsams, in der kleine Kinder gequält werden. Nein, die Einschulung ist das Tor zu neuen Freundschaften, neuen Erlebnissen, Spass und Möglichkeiten, sich weiterzuentwickeln. Ob das ein paar Monate früher oder später geschehen soll, darüber kann man sicher streiten. Aber wenn Kinder zwischen null und drei Jahren den Kita-Eintritt verkraften, müsste die Einschulung mit vier zu schaffen sein. Und sollte ein Kind doch einmal nicht so weit sein, dann ist in den meisten Kantonen eine Rückstellung möglich – wenn auch mit unterschiedlich viel Bürokratie.

Ich kenne inzwischen etliche Vierjährige. Sie gehen alle gern zur Schule und ihre jüngeren Geschwister können es kaum erwarten, bis sie ebenfalls endlich vier sind.

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Sandra Beriger, Heilpädagogin

Kontra

Die Primarlehrerin, Schulische Heilpädagogin und Entwicklungs­psychologin Sandra Beriger unterrichtet seit dreissig Jahren, zehn davon als Heilpädagogin im Kindergarten und in der Unterstufe in Zürich. Sie kreiert Lernspiele und hat zwei Söhne ins Erwachsenenalter begleitet.

Schöner als Markus Tschannen kann man gar nicht beschreiben, welche neue Welt, welche Anregungen und sozialen Kontakte der Kindergarten unseren Kindern eröffnet. Der Kindergarten ist das Herzstück unseres Schulsystems. Seit der Vorverschiebung des Einschulungsstichtags ist er jedoch bedroht.

Zürich kennt keine Basisstufe. Nach zwei Jahren Kindergarten treten die Kinder in die 1. Klasse ein. Bis zur Vorverschiebung des Einschulungsstichtags gelang es all unseren Kindergarten-Lehrpersonen, mit den zwei Kindergartenjahrgängen eine optimale Entwicklungsumgebung zu gestalten. Im ersten Jahr konnten sich die Erstkindergartenkinder, angeleitet von den Grossen, im Kindergarten einleben, soziale Kompetenzen erlernen, um danach im Folgejahr die Rolle der Grossen zu übernehmen. Mit vier Jahren und knapp vier Monaten, so alt waren die jüngsten Kindergartenkinder, waren die allermeisten bereit für das grosse Abenteuer Kindergarten. Mir ist keine einzige Lehrperson bekannt, die in den ersten Schulwochen auf personelle Unterstützung angewiesen war. Das System Kindergarten funktionierte bestens, weil der Alters- und Entwicklungsstand der Kinder mit dem Entwicklungsraum und den personellen Ressourcen des Kindergartens übereinstimmte.

Eine flächendeckende Früh­einschulung ­überfordert viele junge Kinder.
Sandra Beriger, Heilpädagogin

Heute sind die jüngsten Kindergartenkinder gerade eben vier Jahre alt. Je jünger Kinder sind, desto grösser ist aber der Einfluss des Alters auf alle Entwicklungsbereiche. Es gibt kleine Überflieger, die sogar schon vor dem vierten Geburtstag bereit sind für den Kindergarten. Wahrscheinlich gehört auch der kleine Brecht dazu. Leider begegnen mir aber in meiner täglichen Arbeit sehr viele junge Kindergartenkinder, die von der Grossgruppe mit zum Teil mehr als zwanzig Kindern und nur einer einzigen Lehrperson massiv überfordert sind.

Sie sind gestresst, können vom reichen Angebot im Kindergarten gar nicht profitieren, halten ihr Schmusetier in den Händen, fragen dauernd, wann sie nachhause gehen können. An- und Ausziehen gelingt noch nicht selbstständig und sie vergessen, rechtzeitig auf die Toilette zu gehen. Sie hören der Polizistin und dem Förster nicht zu oder laufen einfach davon. Im Kreis zu sitzen, ist von ihnen zu viel verlangt und sie suchen ständig die Nähe zur Kindergärtnerin, die zugleich noch allen anderen Kindern gerecht werden müsste. Dies führt zu einer Überforderungssituation aller und drückt die Qualität des Kindergartens insbesondere auch für die Kinder, die von einem spannenden und anspruchsvollen Programm profitieren sollten. Heute sind selbst unsere erfahrensten Lehrpersonen im Kindergarten bis zu den Herbstferien auf die personelle Unterstützung von zusätzlichen Betreuungspersonen angewiesen. Das ist in meinen Augen ein Systemfehler.

Eine flächendeckende Früheinschulung überfordert viele junge Kinder. Die Einschulung soll deshalb nach Entwicklungsstand und nicht nach Geburtsdatum erfolgen. Ein Schnuppertag oder eine Probezeit könnte hier Abhilfe schaffen. Wer entgegen dem Entwicklungsstand zu früh eingeschult wird, hat unverschuldet Misserfolgserlebnisse mit negativen Auswirkungen auf das Selbstkonzept und die Anstrengungsbereitschaft, was die weitere Schullaufbahn überschattet. Die Jüngsten sind heute bei den Kindern mit Förderbedarf massiv übervertreten. Sie bräuchten eine kleinere Gruppe mit einem altersgerechten Umfeld und angepasstem Betreuungsschlüssel und meist keine zusätzlichen und kostspieligen Therapien. Alle Kinder müssen das Anrecht darauf haben, erst dann eingeschult zu werden, wenn sie gewinnbringend am entsprechenden Kindergarten- oder Basisstufenalltag teilnehmen können.


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